Schumann Handbuch / Hrsg. von Ulrich Tadday – Stuttgart, Weimar: Metzler, 2006. – XXII, 602 S.: Abb. s/w, Notenbeisp.
ISBN 3-476-01671-4: € 64,95 (geb.)
Völlig regelgerecht haben Metzler und Bärenreiter ihrem „Schumann Handbuch“ weder einen – was ja obsolet wäre – bestimmten noch einen relativierenden unbestimmten Artikel mitgegeben. Vorderhand eine banale Erkenntnis. Gewahrt man jedoch, welch hochrangiges Gipfeltreffen der Schumann-Forschung sich auf 624 dicht bedruckten Seiten zwischen zwei Buchdeckeln versammelt, und registriert man die beeindruckende Vielfalt des thematischen Aufgebots, wird die Artikel-Frage plötzlich virulent: Liegt hiermit „das“ Schumann-Handbuch schlechthin vor, das nicht zu überbietende Kompendium zu Vita und OEuvre des Romantikers? Oder lässt sich gerade im Fall des klischeebeladenen, oft verkannten, für immerwährenden Diskussionsstoff sorgenden Zwickauer Genies allenfalls nur Optionales, Potenzielles, eben nur „ein“ Schumann-Handbuch zur Disposition stellen? Herausgeber Ulrich Tadday legt seine Karten ungeniert auf den Tisch: „Das Schumann-Handbuch ist nicht einfach ein Buch über Schumanns Leben und Musik. Es ist vielmehr der Versuch, in einem Buch der Universalität von Schumanns Schaffen annähernd gerecht zu werden.“ (S. IX)
Umrahmt von editorischem Rundum-Komfort wie Zeittafel und Werkverzeichnis mit und ohne Opuszahl, erschließt sich demzufolge ein tiefgründiger Querschnitt durch den aktuellen Forschungsstand, dessen Weg ins Heute Gerd Nauhaus einleitend nachzeichnet. Dass in Schumanns Ästhetik der literarische Horizont mit dem musikalischen verschmilzt, grundiert als tragende Prämisse all das ungemein Profunde, das im Folgenden über den letzten Universalisten in der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts ausgebreitet wird. Peter Gülkes Essay über das Leben dessen, der „noch einmal alles gewollt“ (S. 20) hat, geht meilenweit über rein biographische Berichterstattung hinaus. Auf geistesgeschichtlich-interdisziplinär höchstem Niveau manifestiert sich Essenzielles wie z. B. die Umdeutung des lyrischen Klavierstücks vom Seiten- zum Hauptweg im „Zeichen der romantischen Neugeburt der Musik aus dem Geiste der Poesie“ (S. 41), die Rolle des Autors beim Improvisieren vs. Komponieren oder die Kompensierung der Epigonensituation. Nicht nur in der Sektion „Ästhetik“ – wo Bettina Baumgärtel Schumann und die Bildende Kunst, Uwe Schweikert das literarische Werk und Tadday Schumanns von Jean Paul geprägte Musikästhetik durchleuchten –, auch in der Untersuchung der primär technischen Parameter unter „Kompositionstheorie“ schlägt signifikant die Kategorie des Poetischen durch: „Poesie und Handwerk“ nennt Bernhard R. Appel seine Studie zur Schaffensweise mit ihrem Umbruch vom modularen zum syntagmatischen Komponieren. Exegetisch nicht minder genial postuliert Hubert Moßburger, dass das Poetische als Zentralkategorie bei Schumann eines seiner sprechendsten Ausdrucksmittel in der Harmonik findet.
Nach traditioneller Handbuch-Usance beruht der Kern des Gesamten auf den in sich konsistenten Einzelbeiträgen zum kompositorischen Werk, das unter den Oberkategorien Klaviermusik, Kammermusik, Orchestermusik und Vokalmusik subsumiert wird: Gattungsproblematischem folgen philologisch im Gros höchst subtile Analysen, die ökonomischerweise weniger flächendeckend als repräsentativ angelegt sind. Forschungskritische Aperçus oder subjektive Einlassungen wie Joachim Draheims berechtigte Breitseiten gegen hartnäckige Schumann-Zerrbilder beleben nicht nur die Lektüre, sondern realisieren zugleich auch das Muss eines fließenden Diskurses. Der Abschlusskomplex „Wirkungsgeschichtliche Aspekte“ thematisiert Schumann-Adaptionen in fremden Werken sowie – plausibel aufklärerisch – Schumann in Musikgeschichtsschreibung und Biographik sowie sein Bild in der Belletristik. Summa summarum: „ein“ Schumann-Handbuch mit offenen Denkansätzen, in seinem qualitativ-informativen Mehrwert derzeit zweifelsfrei „das“ Schumann-Handbuch per se.
Andreas Vollberg
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 27 (2006), S. 377f.