Die zweitägige Konferenz zu „mehr Verantwortung für das kulturelle Erbe“ unter dem Titel „Zugang gestalten!“ wurde ohne Tabus, aber mit Visionen und Vorschlägen für erste Schritte beendet.
Alle, die im Berliner Jüdischen Museum, von mehreren Veranstaltern eingeladen, am 22./23.10.2012 sprachen, konnten zufrieden sein: Ihnen wurde interessiert zugehört, und das über allen Rednern (fast ausschließlich Männer, wobei die interessanteren Beiträge von den wenigen Frauen kamen) schwebende Damoklesschwert des Urheberrechts wurde weitgehend (als eine später anpassungsfähige Größe) ausgeklammert. Ausgeklammert wurde auch (da man sich nur noch mit dem Wie befassen wollte) nicht nur die Frage, ob ein digitaler Zugang zum kulturellen Erbe möglich sein solle, sondern auch die Frage danach, was kulturelles Erbe überhaupt sei. Auf die vornehmlich gemeinten „gemeinfreien Werke“ der Musik, Bildenden Kunst, Literatur, des Films und der Wissenschaften, die in Archiven, Bibliotheken, Mediatheken und Museen lagern, konnte man sich schnell verständigen. Dass aber mit dem analogen Zugang zu diesen Kulturgütern auch bisher schon Wertungen, Idealisierungen, Kanonisierungen, Fehlurteile, Benachteiligungen verbunden waren, und ein bestimmtes affirmatives, blauäugiges Verständnis von Kulturerbe auch synonym steht für Schlamperei und unkritische Haltung gegenüber dem Kanon, kam nicht in den Blick. Darum wurde auch die erneute Gefahr fragwürdiger Bewertungssysteme, die durch einen falsch gestalteten digitalen Zugang wiederum entstehen können, kaum in den Blick genommen. Die frühere, der Vielfalt feindliche Selektion von Kulturgütern durch nicht mehr hinterfragte Traditionen und Institutionen könnte durch willkürliche oder kulturindustriell gesteuerte Interessen, die sich in den rein quantitativen Nutzerquoten niederschlagen, noch verschärft werden. Indem marktbeherrschende, mit digitalisierter Kultur handelnde Firmen entscheiden können, für welche Art von Kulturgütern ein „tatsächlicher Anwendungsbedarf“ besteht, feiert die alte kulturelle Verarmung fröhliche Urständ, diesmal unter dem Etikett des freien Zugangs zum kulturellen Erbe. Die Kulturproduzenten hätten sich an die neuen Geschäftsmodelle, mit denen ihre Produkte vermarktet werden, anzupassen.
Und so ging es also auf dieser Konferenz letztlich weniger um das Wie des Zugangs, sondern mehr um die mit neuen Geschäftsmodellen verbundenen Übergriffe auf die Kulturgüter, die nun erstmals durch ihren im Datenuniversum verlinkten Zustand neuen Verknüpfungen, Verweisen und Bewertungen ausgesetzt sind, die eben auch falsch und irrelevant sein können, wonach aber nicht gefragt wurde. Träger und Vermittler dieser Art von „Wissen“ wäre dann eine Kulturwirtschaft, die erneut Kultur auf einen Bildungskanon reduziert und dekretiert, was internettauglich ist. Hier ist als Ausnahme die Wikipedia-Enzyklopädie zu nennen, die als ein zu Kritik und Selbstkritik fähiges aufgeklärtes Unternehmen von Enthusiasten vorgestellt wurde. Vor der Hand aber gilt: Wenn Museen, Bibliotheken und Archive ihre Bestände digitalisieren und im Internet zugänglich machen, würden sie sich damit nicht abschaffen. Ihre Objekte der digitalen Begierde bleiben die unentbehrlichen Originale, deren Authentizität und Integrität nur von ihnen bewahrt werden kann. Schön wäre es darüber hinaus, wenn sich die digitalen Infrastrukturen nicht am jederzeit für Profitinteressen manipulierbaren Markt, sondern an den vielfältigen, jenseits des Mainstreams liegenden Genuss- und Forschungsinteressen der kreativen Produzenten und kulturellen Nutzer orientieren würden. Dafür Rahmenbedingungen zu schaffen, mag auch eine Aufgabe des Staates sein, zunächst aber eine der ganzen Gesellschaft mit all ihren Wissensträgern: den engagierten und mitunter genialen Dilettanten und den Experten.
Peter Sühring
Berlin, 23.10.2012