Mozart neu entdecken. Theoretische Interpretationen seines Werks / Hrsg. von Gernot Gruber und Siegfried Mauser – Laaber: Laaber, 2012. – 507 S.: 76 Notenbsp. (Das Mozart-Handbuch ; 7)
ISBN 978-3-89007-467-2 : € 98,00 (geb.)
Mozart neu entdecken? Wie soll das gehen? Das Werk dieses Komponisten ist ja nicht gerade oder war wohl nie ein verschwundener Kontinent, und so erhebt sich schon vor genauerem Hinsehen die Frage, wie der Titel des Buches gemeint sein könnte – außer dass er ein reklameträchtiges Versprechen suggeriert. Wie soll aber dieses Buch (abgesehen von dem verlegerischen Scherz, es drei Jahre nach einer damals schon um drei Jahre verspäteten Beendigung des ursprünglich sechsbändigen Mozart-Handbuchs nun als dessen siebten Band anzudienen) jenes Versprechen einlösen können, wenn es zu mehr als einem Drittel aus 16 Jahre alten Vorträgen besteht, die hier nur unverändert nachgedruckt sind? Nicht, dass man nicht auch mit kritisch referierten Mozartanalysen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die 1996 in Salzburg vorgestellt und kommentiert wurden, Mozart etwas Neues abgewinnen könnte, redlicher Weise hätte man aber diese Vorträge wenigstens überarbeiten und auf den heutigen Stand der Forschung bringen sollen, denn zu einigen der dort angesprochenen Fragen hat man seitdem in puncto Mozartanalyse des ausgehenden 19. Jahrhunderts tatsächlich etwas Neues entdeckt, das hier völlig unberücksichtigt bleibt (man täusche sich nicht über den Sinn der Mitteilung, die Beiträge des ersten Teils stellten ausnahmslos überarbeitete und zum Teil erweiterte Druckfassungen vorgetragener Referate dar – das stellten sie auch schon bei deren erster Drucklegung im Jahr 1999 dar, aber seitdem wurde daran nichts mehr verändert, so sehr es auch mancher Vortrag nötig gehabt und vielleicht auch mancher Autor gerne etwas geändert hätte). Und so bleibt dem Rezensenten nichts anderes übrig, als sich verärgert von den ersten überflüssigen 192 Seiten dieses Buches mit zwar immer noch lesenswerten, aber alles andere als neuen Texten abzuwenden und sich dem zweiten Teil zuzuwenden, der mit „Mozartanalyse heute“ betitelt ist und auf nur sechs Jahre alte ungedruckte Vorträge in Wien zurückgeht, um hier die Einlösung des Versprechens zu erhoffen. Aus diesem Teil allein hätte man gut ein billigeres selbständiges Paperback machen können.
Und in der Tat, hier weht schon ein etwas anderer Wind als in dem absichtlich rückwärts gewandten, historisch synthetisierenden Texten von 1996. Die neuen Perspektiven sind gegenwarts- und zukunftsbezogen in einer Weise, dass man sich fragt, wie man sich früher überhaupt mit geschlossenen Systemen und modellhaften Schablonen an Mozart heranwagen konnte ohne zu erröten. Gernot Gruber gibt in seinem einleitenden, für die Druckfassung sichtbar erweiterten Text eine glänzende Zusammenfassung der gewonnenen Freiheiten der letzten Jahre. Demnach sind alle dogmatischen und schematischen Analysemethoden der musikalischen Virtuosität Mozarts unterlegen, denn Mozarts Impulsivität und Spontaneität beim Komponieren sprengte etliche Konventionen und ästhetische Maximen und sie können nur durch solche Hör-, Lese- und Wahrnehmungsmethoden nachvollzogen werden, die sich auf eine spielerische Vielfalt der Formen einlassen. Und so ist es wohl eher beunruhigend, wenn von Nico Schüler vorgestellte neueste statistische und computergestützte Analysemethoden in den alten Schematismus verfallen und auch alphanumerische Codes und logarithmische Felder der Kreativität Mozarts nicht gewachsen scheinen – auch wenn der Autor das „Zusammenbringen von traditionellen und computergestützten Methoden als überaus fruchtbar ansieht“ (S. 451).
Manfred Angerer erinnert an Leonard Bernsteins Unternehmen von 1973, an Mozart-Werken Kategorien der generativen Transformationsgrammatik Noam Chomskys zu exemplifizieren. Klaus Aringer widmet sich neuen Perspektiven, Mozarts Instrumentationskunst zu analysieren, Joachim Brügge plädiert für Intertextualität. Auch der Gender-Aspekt fehlt nicht, wenn er sich in dem Beitrag von Katharina Hottmann auch schwer tut mit einem Komponisten, dessen Auffassung von Geschlechterspannung mehr von den biologisch primären Geschlechtsmerkmalen und seelischen Unterschieden ausging und in ihrer sozialen Kompetenz starke Frauen ins Feld führte (Pamina!). Hier aber werden verborgene Aspekte in zwei Mozart-Liedern hervorgekehrt. Ulrich Konrad setzt seine gattungskritischen Reflexionen und Fallbeispiele zur Musikerbiografie aus der ersten Tagung (1996) fort und führt sie bis zu Konrad Küster (1990) und Julian Rushton (2006). Laurenz Lütteken versetzt Mozart in die Wahrnehmungskultur seines Jahrhunderts, und Manfred Hermann Schmid erläutert seinen Glauben an die schicksalhafte Abhängigkeit jeglicher Musik von der menschlichen Sprache an Beispielen aus Mozarts Schaffen. Gottfried Scholz macht eine erneuerte Affektenlehre für Mozarts Opern fruchtbar. In allen Beiträgen (auch in den hier aus Platzgründen ungenannten) wird an Mozart tatsächlich etwas Neues entdeckt.
Peter Sühring
Berlin, 07.10.2012