„…über jeden Ausdruck erhaben und schön“. Die Schweizer Reise der Familie Mendelssohn 1822. Mit Briefen der Tochter Fanny, Tagebuchauszügen und Zeichnungen / Hrsg. von Hans-Günter Klein – Wiesbaden: Reichert, 2012. – 170 S.: 30 Abb., Beil.: Landkarte der Schweiz von 1823
ISBN 978-3-89500-851-1 : € 29,90 (geb.)
Bedauerlicherweise hat der Herausgeber, und zwar wissent- und willentlich, die Chance vertan, hier ein Kompendium aller verfügbaren familiären Dokumente zur ersten Schweizer Reise, an der Felix und Fanny Mendelssohn teilnahmen, zu veröffentlichen, denn er hat ausdrücklich auf alle sieben, z.T. umfangreichen „Briefe von Felix Mendelssohn an seinen Lehrer K. Fr. Zelter und den familiären Freund J. L. Casper“ (S. 140), der auch der Librettist der Oper Der Onkel aus Boston war, an der Felix während dieser Reise schrieb, „verzichtet“, da sie „in jüngerer Zeit gedruckt worden und leicht zugänglich sind“ (S. 27). Wohl dem, der im Besitz des ersten Bandes der auf zwölf Bände geplanten Gesamtausgabe der Briefe Mendelssohns ist oder eine Bibliothek in seiner Nähe hat, die diesen Band eingestellt hat. So unverständlich diese Entscheidung (gab’s Lizenzprobleme?) sein mag, so sehr ist sie auch das Einzige, was es an diesem ansonsten sorgfältig kompilierten und kommentierten Dokumentenband zu bemängeln gibt. Bis auf den weiteren Umstand, dass zwar das Notat zweier Schweizer Lieder, das die mitreisende Frankfurterin Julie Saaling in ihr Stammbuch klebte (und deren Handschrift man fast für die Felixens halten möchte) faksimiliert ist (S. 21), ohne die spätere Karriere von Dominics Lied in der neunten Streichersinfonie Mendelssohns zu erwähnen. Überhaupt liegt der Schwerpunkt dieser Publikation nicht auf der Musik, sondern eher auf der Vergegenwärtigung der Schweizer Landschaft und des enormen Eindrucks, den sie auf die verschiedenen Familienmitglieder und Mitreisenden, darunter auch den Hauslehrer der Mendelssohns, Karl Heyse, gemacht hat.
Zu diesem besonderen Zweck sind um die chronologisch dokumentierten, wie stets munteren und kecken Briefe Fanny Mendelssohns mit dem charakteristischen Zusätzen der Mutter Lea, den Tagebuchaufzeichnungen Heyses und Julie Saalings zahlreiche halb- oder ganzseitige schwarz/weiße Abbildungen von Zeichnungen Felixens mitsamt seiner Erläuterungen dazu sowie die anderer zeitgenössischer Maler gruppiert, die ein starkes Abbild dieser unerbittlichen und bedrohlichen Hochgebirgslandschaft vermitteln. An ihr hat sich Felix berauscht und seine Demutsempfindungen der Natur gegenüber entwickelt, während Fanny sie nur als kalt und menschenfeindlich empfand. Nicht zufällig begann Felix Mendelssohn auf dieser Reise sein erstes feuriges und kraftvolles Klavierquartett in c-Moll (op. 1, MWV Q 10) zu komponieren.
Was die damaligen Reiseumstände betrifft, die Freud und Leid hervorriefen, so wird man hier bestens ins Bild gesetzt. Eine zeitgenössische Landkarte zeigt den roten Faden der Route. In knappen und dezenten Anmerkungen wird alles zum Verständnis der Briefe und Aufzeichnungen Nötige von Hans-Günter Klein angemerkt, darüber hinaus helfen eine Konkordanz der damaligen und heutigen Schreibweisen geografischer Namen und mehrere Verzeichnisse (der Zeichnungen von Felix Mendelssohn, der Quellen, Abbildungen, der Literatur, der Orte und der Personen) die Reiseroute und die Vorkommnisse zu verstehen. Ein Drittel der Reise spielte sich auf der Hin- und Rückfahrt in Deutschland ab, Kassel (Louis Spohr!), Frankfurt/Main (J. L. Schelble und die Taufe der Eltern, sechs Jahre nach der ihrer Kinder!) und Weimar (Goethe!) waren wichtige Stationen, und was man hier nicht erfährt, muss man in Felixens Briefen nach- und weiterlesen.
Peter Sühring
Berlin, 06.10.2012