Fischer-Dieskau, Dietrich: Das deutsche Klavierlied – Berlin: Berlin University Press 2012. – 95 S.
ISBN 978-3-86280-021-6 : € 19,90 (geb.)
Posthum veröffentlicht bekommt dieses schmale Buch noch mehr den Charakter einer bündigen Zusammenschau einer sängerischen Lebenserfahrung mit einem ganz bestimmten, klar umrissenen künstlerischen Stoff, dem des deutschen Klavierlieds, das zwar keine eigene Gattung ist, aber eine ziemlich hermetisch abgezirkelte Geschichte hat. Sie reicht bei Dietrich Fischer-Dieskau (1925-2012) von Johann Friedrich Reichardt bis Aribert Reimann. Dass diese summarische und manchmal auch detaillierte Darstellung als Vermächtnis gemeint war, wird auch durch den passagenweise hohen Ton, der hier absichtlich angeschlagen wird, deutlich. Zudem spickt Fischer-Dieskau manche Sentenzen mit ausdrücklichen Empfehlungen an junge Sänger. Von ihnen zu erwarten, dass sie die Stafette des künstlerischen Liedgesangs weitertragen und dafür einige qualitative Pflöcke einzuschlagen, scheint in einer Zeit, in der diese Kunst sich mitten in einer Abenddämmerung befindet, dringend geboten. Fischer-Dieskau redet wie aus einem Trauerflor heraus, mit dem er seine Schilderungen einer vergangenen Kunst umgibt. Mag dieser kulturpessimistische Ton manchmal störend empfunden werden, weil man unterstellen darf, der Klagende meint, mit ihm gehe eine ganze Welt unter – zu bewahren und zu verteidigen gibt es da tatsächlich etwas. Denn ganz in Gegensatz zu der Zeit, als Fischer-Dieskau seine kometenhafte Laufbahn begann und zu der (nicht zuletzt auch durch sein Engagement) das deutsche Kunstlied eine erneute internationale Karriere begann, ist heutzutage seine Stellung im Konzertleben die einer bedrohten Spezies.
Eine historische Zäsur bei Reichardt und Karl Friedrich Zelter, sprich der Berliner Liederschule, zu setzen (wenn auch nicht unbedingt das deutsche Klavierlied erst dort beginnen zu lassen), ist vor allem dadurch sinnvoll begründet, dass Fischer-Dieskau klarstellen kann, dass deren Produktion von dem endlichen Auftauchen singbarer Lyrik bei Goethe abhing. Zwischen den Extremen eines unvariierten Strophenliedes und einer völlig durchkomponierten balladesken Form bewegten sich die qualitativen Möglichkeiten der Komponisten. Wenn sie Glück hatten, fanden sie textliche Vorlagen, die ihnen erlaubten, ein variiertes Strophenlied als die von Fischer-Dieskau bevorzugte Gattung zu komponieren. Oder die Texte wurden wie bei allen begnadeten und reflektierten Liedkomponisten, den Bedürfnissen von Melodie, Rhythmus und Harmonik angepasst. Alle in der Folge von Fischer-Dieskau ausgewählten und näher beschriebenen Liedkomponisten taten das oder beklagten die Untauglichkeit der poetischen Produktion, die ihnen die musikalische Phantasie abwürgte: Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Loewe, Schumann, Brahms, Cornelius, Liszt, Strauss, Wolf, Reger, Mahler, Pfitzner, Hindemith, Schönberg, Webern, Berg und Reimann. Da Fischer-Dieskau sie alle sein Leben lang gesungen hat, sich mit Fragen der Deklamation und Artikulation befasst hat, kann er manchen von ihnen, die von einigen Hörern und Kritikern als unsanglich empfunden werden, in Schutz nehmen und eine Lanze für deren Gestaltungsvermögen brechen, so für Beethoven, Schumann, Brahms und die Zweite Wiener Schule. Eine besondere Lanze bricht er für Carl Loewe und in fast unvermeidlicher Weise findet er die stärksten Worte für Schubert, der Natur und Geist, Instinkt und Reflexion zu vereinen vermochte wie keiner sonst und der die autonome Musikalität auch der textgebundenen Musik zu realisieren vermochte: „Führt [Schubert] in zahllosen Fällen die Musik vom sprachvollen zum sprachfreien Denken, so offenbart er damit das Entscheidende seiner persönlichen Musikerfahrung“ (S. 40f.)
Fischer-Dieskau hat sich zu dieser von ihm gesanglich erschlossenen Überlieferung einen ganz persönlichen, geradezu intimen Zugang verschafft und redet subjektiv, kümmert sich, außer um sie manchmal zurückzuweisen, nicht um die Fülle der Sekundärliteratur. Der Stil ist essayistisch, er zitiert wie aus dem Gedächtnis und spricht frank und frei, und er spricht vor dem Hintergrund großer gesangstechnischer Versiertheit und literarischer Belesenheit von seiner dezidierten Sicht auf die Lieder, die weiter gesungen werden sollten. Nicht nur irgendwie, aber auch nicht immer nur so wie er es tat, aber unter Berücksichtigung einiger von ihm entfalteter historischer Entwicklungslinien. Leider sind dem Lektorat ein paar Schreibfehler und Textverdoppelungen entgangen. Es ging Fischer-Dieskau nicht und kann auch dem Leser nicht um Vollständigkeit gehen, aber schmerzlich vermissen tut man doch wenigstens Streiflichter auf das Liedschaffen von Mendelssohn und Eisler, das eine als Brücke zwischen Schubert und Schumann, das andere als nicht zu vernachlässigender Bestandteil und Ausfluss der Zweiten Wiener Schule. Fischer-Dieskau hat sie beide gesungen.
Peter Sühring
Berlin, 19.9.2012