Johnson, Julian: Mahler’s Voices: Expression and Irony in the Songs and Symphonies. – Oxford: Oxford University Press, 2009. – 376 S.: Notenbsp. (engl.)
ISBN 978-0-19-537239-7 : € 43,99 (geb.)
Julian Johnsons brilliant konzipiertes Buch richtet sich in erster Linie an die Mahler-Freunde und -Kenner, also diejenigen Leser, die etwa bei Ging heut‘ morgen übers Feld oder Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen bereits über konkrete musikalische Assoziation verfügen, denen die Hammerschläge der sechsten Sinfonie genauso bekannt und mehr oder weniger vertraut sind wie die Posthornserenade oder der Violabeginn der 10. Sinfonie. Diesen wie auch den Fachleuten bietet Johnson, Leiter der Musikabteilung am Royal Holloway der Universität London, mit seiner verständlich geschriebenen Darstellung, die Werkbetrachtung mit kulturwissenschaftlich-historischer Verortung verknüpft, vertiefte Einsichten in die Vielfalt an musikalischen Stimmen in Mahlers Musik und ihre Verknüpfungen. Ein Buch auch, um das eigene Mahler-Gesamtbild auf aktuellen Stand zu bringen.
Als assimilierter deutscher Jude aus Tschechien nahm Gustav Mahler (1860-1911) alle Stimmen, die ihn umgaben, auf, vom Marktplatz seiner Kindheit in Iglau bis nach New York. Vokalität ist überall in Mahlers Musik, ob ein Sänger anwesend ist oder nicht. Die Spannung zwischen lyrischer Stimme und autonomer Orchestermusik hat Mahler in seinen Partituren verinnerlicht, und daraus entsteht eine bereits von den Zeitgenossen bemerkte (und kritisierte) Spannung zwischen dem lyrischen Inhalt und dem „monumentalen Impuls“ der orchestralen Mittel. Johnson führt vor, wie in jedem Werk Mahlers diese beiden Prozesse miteinander verbunden sind: die orchestrale Expansion der Stimme und ihre gleichzeitige Fragmentierung.
Johnson macht einen weiteren Aspekt stark: dass nämlich Mahler gleichzeitig zum „als ob“ des mysteriösen Ursprungs seiner Musik genauso auch die artifizielle Spannung zwischen den Konzepten von Ausdruck und Konstruktion vorführt, als Charakteristikum seiner Modernität. Seit den frühen Werken komponierte er mit Charaktermasken und oft gewissermaßen in Anführungszeichen, sodass der Hörer nie sicher sein kann, ob das, was er hört, ernst oder ironisch gemeint ist. Mahlers Musik kann, wie Johnson demonstriert, auch als Beleg für die Selbstzerstörung einer musikalischen Tradition durch das Gewicht ihres eigenen überreichen Materials gelesen werden; die Zahl der unabsichtlichen Reminiszenzen wie der absichtlichen Allusionen und Zitate gehe weit über die in der Forschung gezählten über 50 Beispiele hinaus, eigenes Material spielt ebenfalls eine beträchtliche Rolle. Als „Opern ohne Worte“ (Max Brod) spiegeln Mahlers Sinfonien seine Dirigiererfahrungen mit klassischer Orchestermusik und Opern, genauso aber mit Operetten und Ballettmusiken.
Schon Richard Strauss sprach von Mahlers Sinfonien als „Literatur“. Johnson macht deutlich, dass am produktivsten die Parallelisierung mit Dostojewski ist. Die verbreitete Idee, dass Mahlers Musik erzählt, wird hier erweitert: es gehe Mahler gleichzeitig um Infragestellung und um Kritik. Bei Mahler unterminiert seine Kritik der musikalischen Sprache, durchaus in Parallele zu Karl Kraus, die Mittel des Ausdrucks selber.
Das Buch lädt zur offenen Lektüre ein: Der Leser hat die Wahl, mit welchem Kapitel und welcher Stimmen-Perspektive er beginnt. Eindrucksvoll und ohne Pochen auf den Fachjargon vermag Johnson aus verschiedenen Blickwinkeln immer wieder neu zu zeigen, auf welche Weise Mahlers Musik mit vielen Stimmen gleichzeitig spricht, im plötzlichen Wechsel zwischen Ironie und Herzerweichen. Mahlers Musik singt ihre expressiven Melodien, während sie gleichzeitig den Rahmen, der sie möglich macht, zerstört. Und so liegt, wie Julian Johnson überzeugend darstellen konnte, bis heute die Faszination von Mahler darin, dass er sich weigerte, die romantische Identifikation aufzugeben, sie aber gleichzeitig mit moderner Selbstanalyse verband. Dadurch vermochte er im „als-ob“-Modus utopische Inhalte zum Klingen bringen.
Hartmut Möller
Rostock, 28.07.2012