Wysocki, Gisela von: Wir machen Musik. Geschichte einer Suggestion. – Berlin: Suhrkamp, 2010. – 258 S.
ISBN 978-3-518-42208-3 : € 22,90 (geb.)
Das „Wir“ im Titel ist ein kleiner Euphemismus. Im Grunde ist es nur ER, der Musik macht, womit nicht gerade Gott gemeint ist, aber doch der überlebensgroße Herr Vater: Georg von Wysocki (1890–1973), seines Zeichens der Unterhaltungschef in der Plattenfirma Odeon. Und zwar in den Weimarer Zeiten, als hemmungslos nach amerikanischem Vorbild Tanz- und Unterhaltungsmusik produziert und verbreitet wurde, dann in den dreißiger Jahren als die Nazis den Sektor der Schlagermusik zur Betäubung und Ablenkung des Volkes einsetzten und auch noch in der Nachkriegszeit, als mit den GIs auch wieder das verruchte, nun aber als befreiend empfundene Zeugs über den Ozean nach Deutschland hereinkam und wieder gespielt werden durfte, das einen so süchtig machte.
Mit ER könnte aber auch der Grammophonkasten gemeint sein, der hier Musik machte, denn nicht etwa sang der Herr Papa oder spielte ein Instrument, nein: abgesehen von ein paar gescheiterten Versuchen, mit der Frau Mama gemeinsam zu musizieren, ließ er Musik machen, die auf wunderliche Weise den Rillen dieser lakritzfarbenen runden Platten entstieg wie ein Geist aus der Flasche. Und so wurde der Plattenproduzent zu Hause zum großen Zampano, der Musik aus dem Kasten zauberte und das kleine Mädchen Gisela in großes Staunen und Entzücken versetzte. Und es sangen da ganz andere: Zarah Leander, Marika Rökk, Hans Albers und Heinz Rühmann. Auch in kleineren Häusern mit weniger prominenten Vätern – der Rezensent hat’s erfahren – gab es diese Wundermaschinen und wurde am liebsten der Japanische Laternentanz aus dem Trichter geholt.
Heute, nach Tanz- und Klavierstunden, Philosophiestudium bei Adorno und Literatinnenkarriere, ist das alles wie ein frühes Wunderland im Rückblick wieder präsent und lässt sich in 63 Miniaturen aus dem Füllhorn der Erinnerungen wie aus einer Büchse der Pandora (denn es sind ein paar böse Geschichten darunter) ausschütten und erzählen. Und die Autorin kann erzählen und dabei blinzeln und einem alles um den nicht vorhandenen Bart schmieren. Und die soziale Rolle der so genannten leichten Muse, die manche für schlechte Musik halten, nämlich die so genannten einfachen Gefühle zu wecken oder auszudrücken, sie steht hier im Mittelpunkt der Betrachtungen. Mit der Weisheit letztem Schluss, dass nicht nur die holde Tonkunst der großen Meister, sondern auch der dumme Schlager etwas an der Seele des empfindsamen Menschen rühren kann. Man erfährt also wirklich viel über Musik in diesem Buch. Gisela von Wysocki tut so, als wäre sie ein Einzelkind gewesen und hat nur ihre Geschichten mit dem Vater im Kopf – irgendetwas stimmt da nicht, vielleicht ist der frühkindliche, ins Poetische gewendete Narzissmus noch nicht ganz vorbei? [Ton-Folgen, die Erinnerungen ihres Bruders Harald Banter, wurden 2003 in FM 24 vorgestellt; Anm. d. Red.]
Eigentlich schade, dass Wysockis Philosophielehrer Adorno das Buch nicht mehr lesen kann, dessen unweise Parole war: Schlagt den Schlager!
Peter Sühring
zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 32 (2011), S. 209f.