Bürgerlichkeit und Öffentlichkeit. Mendelssohns Wirken in Düsseldorf / Hrsg. von Andreas Ballstaedt, Volker Kalisch und Bernd Kortländer – Schliengen: edition argus, 2012. – 196 S.: Abb., Notenbsp. (Kontext Musik. Publikationen der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf ; 2)
ISBN 978-3-931264-62-8 : € 28,00 (kt.)
Als wichtigstes Resultat des Mendelssohn-Jahres 2009 erscheint heute die hoffentlich weit genug verbreitete Erkenntnis, dass das Meiste dessen, was über Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847), eine zentralen Gestalt des deutschen und europäischen Musiklebens aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bis ins 20. Jahrhundert kolportiert wurde, falsch ist und möglichst schnell vergessen werden sollte. Es lohnt sich nicht einmal, daran auch nur negativ anzuknüpfen. Und so ist der bessere Teil der neueren Mendelssohn-Literatur (nicht alle wohlmeinenden und gutgemeinten Publikationen des Jahres 2009 gehörten dazu) davon geprägt, die besonders in Deutschland tief sitzenden Vorurteile entweder zu entkräften oder, was allmählich die bessere Methode wäre, stillschweigend zu übergehen. Irgendwann müssen die Leute doch merken, dass dieser Unsinn an den inzwischen bekannt gemachten und verbreiteten Tatsachen einfach abprallt.
Was ein spezielles Fehlurteil betrifft, nämlich die knapp zwei Jahre zwischen Oktober 1833 und Sommer 1835, die Mendelssohn zwischen seiner Berliner Jugend und seinem endgültigen Engagement in Leipzig in Düsseldorf als Städtischer Musikdirektor verbrachte, seien eine zu vernachlässigende Episode, so war dies durch die Düsseldorfer Ausstellung des Heinrich-Heine-Instituts im Jahr 2009 und den von Bernd Kortländer herausgegebenen Katalog „Übrigens gefall ich mir prächtig hier“ mit seiner umfangreichen Dokumentensammlung erstmals zerstreut worden. Und nun wird durch die Wiedergabe der Vorträge eines damals in Düsseldorf abgehaltenen Symposiums in dem vorliegenden Sammelband weiter differenziert und vertieft.
Es werden zwar soziologische und sozialgeschichtliche Oberbegriffe zum Ausgangspunkt der Untersuchungen genommen (dabei aber die von Mendelssohn selbst eingeführte Unterscheidung zwischen gesellig und öffentlich zu wenig beachtet), aber alles wird anhand faktenreicher Darstellungen erläutert. Düsseldorf war für den in oder an Berlin gescheiterten jungen und schon sehr erfahrenen Komponisten und Musikpraktiker Mendelssohn nach seinen ersten englischen Erfahrungen das richtige Pflaster zum richtigen Zeitpunkt. Es war zwar von Preußen annektiert worden, aber der Code Napoleon, unter dem die Düsseldorfer eine Zeitlang leben durften, und der Verlust eines eigenen Hofes hatten das lokale Bürgertum besonders für Kunst und Wissenschaft empfänglich gemacht und dazu aktiviert, öffentliche Bildungsinstitutionen einzurichten, die liberalen Künstlern und Wissenschaftlern ein Betätigungsfeld boten. Der Dichter Karl Immermann, den Mendelssohn für einen der bedeutendsten des damaligen Deutschlands hielt, lebte hier und kämpfte um die Eröffnung einer für Musteraufführungen des Theaters und der Oper geeigneten Bühne. Es gab einen Gesangverein und ein Orchester, und Mendelssohn hatte schon einmal mit Erfolg eines der immer bedeutender werdenden Niederrheinischen Musikfeste geleitet, wusste also, was auf ihn zukam, als er sich für die katholische (!) Kirchenmusik und das städtische Musikleben verpflichtete sowie zusätzlich versprach, die Opernaufführungen am Theater zu leiten.
All diese Aufgaben und damit verbundenen Ämter interessierten ihn wohl, eigentlich aber versprach er sich von seinem Aufenthalt in Düsseldorf, bei gesicherten finanziellen Verhältnissen und einem vierteljährlichen Urlaub „recht ruhig und für mich componiren zu können“. Das Resultat dieser Jahre ist denn auch das zur Eröffnung des Niederrheinischen Musikfestes 1836 in Düsseldorf uraufgeführte Oratorium Paulus, die bis heute kaum beachtete Konzertouvertüre Das Märchen von der schönen Melusine, mehrere der schönsten Lieder ohne Worte, einige Schauspielmusiken und mehrere Bearbeitungen eigener und fremder Werke. Sein freiwilliges Engagement für die Kirchenmusik und das Theater überwucherte schließlich seine geheimen kompositorischen Pläne (auch den zu einer Oper, für die eigentlich Düsseldorf der rechte Ort gewesen wäre) und so war Mendelssohn froh, nach schwelenden Auseinandersetzungen (im Dreieck zwischen ihm, Immermann und der Stadt) Düsseldorf in Richtung Leipzig verlassen zu können, nicht ohne immer wieder gerne nach Düsseldorf für einzelne Engagements, besonders in Verbindung mit dem Niederrheinischen Musikfest, zurückzukehren.
All diese Verhältnisse und viele damit verbundene Details werden im vorliegenden Band klargestellt und unter verschiedenen Gesichtspunkten erläutert. Wie um eine Achse drehen sich die Beiträge um jenen von Matthias Wendt, der hier besonders hervorgehoben werden soll, weil er sich die Mühe gemacht hat, die bisher ungesichteten, unausgewerteten und unpublizierten Arbeitsnotizen Mendelssohns aus der Düsseldorfer Zeit, die heute in Oxford liegen, zu transkribieren, zu annotieren und teilweise faksimiliert wiederzugeben. Einige Beiträge leiden unter der Tatsache, dass damals die wichtigste Publikation, die 2009 begonnen wurde, die Ausgabe der Sämtlichen Briefe Mendelssohns, noch nicht bis zu den Düsseldorfer Jahren vorgerückt war. Einige Ungenauigkeiten in der Zitierweise (wenn man nicht gleich wie einige Autoren lieber Sekundärquellen benutzt) sind von den glücklichen Besitzern der Bände 3 und 4 der Briefausgabe heute leicht zu korrigieren. Mendelssohn war ein der Lebenslust nicht abgeneigter aber hart arbeitender Künstler, dem es kaum irgendwo leicht gemacht wurde, der weder Klassizist noch Historist und schon gar kein „Problem“ à la Dahlhaus war – das dürfte die Quintessenz der Düsseldorfer Jahre und dieses Buches sein.
Peter Sühring
Berlin, 30.05.2012