Karlheinz Stockhausen. Kompositorische Grundlagen Neuer Musik. Sechs Seminare für die Darmstädter Ferienkurse 1970 / Hrsg. von Imke Misch. – Kürten: Stockhausen-Stiftung für Musik, 2009. – X, 292 S.: 91 Farb- und s/w-Abbildungen.
ISBN 978-3-00-027313-1 : € 50,00 (geb.)
Die Entwicklung der Neuen Musik nach 1945 gehört zu den spannendsten Phasen in der europäischen Musikgeschichte. Warum das so ist, das macht die Veröffentlichung von Stockhausens Seminar-Vorträgen im Rahmen der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt 1970 deutlich.
Karlheinz Stockhausen (1928-2007), der als Dozent seit 1957 wesentlich zum Nimbus der Ferienkurse als Laboratorium neuer Ideen beigetragen hatte, nahm 1970 das 25-jährige Jubiläum der Kurse zum Anlass, über „heiße Themen der gegenwärtigen musikalischen Situation“ zu sprechen, wie er damals an den damaligen Leiter der Kurse, Ernst Thomas, schrieb. Die Vorträge blieben zu Lebzeiten des Komponisten allerdings unveröffentlicht. Die Publikation erfolgte nun ausgehend von einem Tonbandmitschnitt, wodurch der Leser zugleich einen Einblick in Stockhausens überaus lebendigen Vortragsstil erhält. Es gelingt Stockhausen in der Tat, durch die Auswahl der Themen „einige fundamentale Kriterien der Neuen Musik aus den letzten 10 Jahren zusammenzufassen: Kriterien, die – mit größerem Abstand aus der Zukunft gesehen – alles Modische hinter sich lassen und eines Tages in den trockenen historischen Berichten als charakteristisch für die Entwicklung der Musik dieses Jahrzehnts genannt werden.“ Diese Formulierung aus Stockhausens Einführungstext trifft den Kern: Die mustergültig edierten Seminarvorträge, überaus anschaulich unterstützt von den entsprechenden Skizzen und Abbildungen, thematisieren die fundamentalen theoretischen Überlegungen des seriellen Denkens seit 1950, deren Konsequenzen allerdings weit über die von Stockhausen genannte Dekade und auch über das eigene Schaffen hinausreichen.
Ausgehend von seinen Kompositionen erläutert Stockhausen zahlreiche der Neuerungen im Bereich des Musikalischen, die erst durch das Arbeiten mit seriellen Prinzipien möglich wurden: (1) der produktive Zugriff auf die sinnvolle Vermittlung zwischen Mikro- und Makrokontinuum durch Diminution und Augmentation; (2) die formale Integration von gefundener und erfundener Musik als Collage und Metacollage: (3) die Ausweitung der Temposkala und (4) der dynamischen Skala, die veranschaulicht, inwieweit sich die kompositorische Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg im Rahmen der neuen technischen Möglichkeiten auch mit den Grenzen der historisch überlieferten Parameterwerte auseinandersetzte; (5) die Rückkopplung als Mittel zur Schaffung neuer formaler Abläufe; (6) Spektralharmonik und Formantmodulation; (7) Raummusik.
Fazit: Ein überaus instruktives – und zugleich sehr sorgfältig und reichhaltig gestaltetes – Buch nicht nur für den Stockhausen-Kenner, sondern für jeden Hörer, der sich mit den Problemstellungen der zeitgenössischen Musik und ihren kompositorischen Lösungen auseinandersetzen möchte.
Markus Bandur
Berlin, 20.03.2012