Sebastian Hensel: Hier fiel Mutter vom Esel. Reise nach Italien mit den Eltern Wilhelm Hensel und Fanny, geb. Mendelssohn Bartholdy. Das Tagebuch von 1839/40 und die Zeichnungen von 1845 / Hrsg. von Wolfgang Dinglinger – Hannover: Wehrhahn, 2011. – 195 S.: Abb.
ISBN 978-3-86525-190-9 : € 20,00 (geb.)
Über diese Italienreise „der Hensels“, wie der erwachsene Sebastian Hensel (1830-1898) in seiner Familiengeschichte „der Mendelssohns“ gerne sagt, wenn er von seiner Mutter Fanny (geb. Mendelssohn), seinem Vater Wilhelm und sich sprach, sind wir bereits in literarisch stilisierter Form gut unterrichtet. Sebastian Hensels späte Beschreibung im Rahmen seiner Familiengeschichte (immerhin 135 Seiten im zweiten Band) stützt sich auf das Tagebuch seiner Mutter und auf ihre Briefe, die inzwischen in selbständigen Publikationen vorliegen. Wie anders sich aber alles aus den Augen des reisenden Knaben ausnahm und wie viele Dinge er damals unmittelbar wichtig nahm oder verschwieg, kann man nun erst in seinem eigenen Tagebuch des Herbst und Winters 1839/40 nachlesen. Sebastians Hensels Berliner Kinderstube hatte sich bisher im Gartenhaus der Leipziger Straße, in dessen Vorderhaus „die Mendelssohns“ (Abraham und Lea, die Großeltern und die Geschwister der Mutter Fanny) residierten, zwischen dem Atelier des Vaters und dem Musikzimmer der Mutter abgespielt, kurzfristig und kurzweilig unterbrochen vom Spiel mit den Kindern des Gärtners. Ein Sommer in Heringsdorf an der Ostsee ging der Italienreise noch voraus. Aber diese Reise des 9- bis 10-Jährigen war wohl der Aufbruch in die große weite Welt. Man kam durch Leipzig, wo der Onkel Felix gerade am Gewandhaus wirkte. Man sah in Norditalien alles, was des deutschen Bildungsbürgers Herz begehrte, aber die mächtigen Mauern gegen die Adria und die Muscheln am Strand des Lido waren für Sebastian vielleicht beeindruckender. Erst in Rom und Neapel bekam er kindliche Gesellschaft und andere Erwachsene als die Eltern mit auf den Weg.
Es gibt von Sebastian Hensels Tagebuch der Italienischen Reise auf den Spuren Goethes, in denen damals jeder wandeln wollte, der gebildet war, zwei Fassungen, eine originale des Knaben und eine korrigierte, gekürzte, verbesserte und erweiterte der Mutter, die sie ihren Sohn noch einmal in eine Reinschrift setzen ließ – einerseits aus erzieherischen Gründen, andererseits, um sie der Großmutter Lea zum Geschenk zu machen. Beide Fassungen sind in dieser Ausgabe synoptisch gedruckt, so dass die Eingriffe der Mutter fortlaufend sichtbar sind. Besser kann man das kindliche Vergnügen und Leiden an den Dingen einer unbekannten Welt und die hehre Idealisierung, den bildungspolitischen Aufputz, den Fanny Hensel daraus macht, um den Ansprüchen der Mutter zu genügen, nicht vor Augen führen. Die Verknüpfung, manchmal auch die beflissene Verwechslung von Reisevergnügen mit Pädagogik ist hier allenthalben spürbar und lässt Sebastian Hensel als ein nicht nur verwöhntes, sondern auch gequältes Wunderkind erscheinen. Der vorauseilende Gehorsam Fanny Hensels gegenüber den Normen des Standes nimmt erschreckende Ausmaße an. Was ihr an kecker Produktivität versagt blieb, scheint sich hier in einer übergriffigen Stilisierung der Erfahrungen ihres Kindes auszutoben.
Der Band ist mit Zeichnungen Sebastian Hensels aus dem Jahre 1845, mit verwandten Motiven einer ähnlichen Reise, ausgeschmückt. Behutsame und kenntnisreiche Kommentare, die den Italien-kundigen Herausgeber zeigen, ergänzen den Originalton des Kindes und der Mutter auf das instruktivste, zwei Register der Orte und der Personen, nennen und kennen alle erwähnten Namen. Seltsam berührt wieder einmal die schon im Buchtitel aufgestellte Behauptung, bei Fanny Hensel hätte es sich um eine geborene Mendelssohn Bartholdy gehandelt. Eine Bartholdy war Fanny nicht qua Geburt, sondern qua Taufe, die ihr diesen christlichen Zusatz im Alter von elf Jahren anheftete.
Peter Sühring
Berlin, 19.03.2012