Amaury du Closel: Erstickte Stimmen. „Entartete Musik“ im Dritten Reich

du Closel, Amaury: Erstickte Stimmen. „Entartete Musik“ im Dritten Reich / Aus dem Franz. von Ulrike Kolb. – Wien: Böhlau, 2010. – 506 S.
ISBN 978-3-205-78292-6 : € 39,00 (geb.)

Dass nur die Nazis selber ihr Schreckensreich das Dritte nannten, womit sie sich in die Tradition des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und des zweiten deutschen Kaiserreichs stellen wollten, müsste eigentlich wissen, wer über diese Zeit sprechen will, und diese Bezeichnung in Anführungsstriche setzen. Schon der originale französische Titel Erstickte Stimmen im III. Reich tut dies nicht, ebenso der erweiterte Untertitel der deutschen Ausgabe. Das ist nur eine der vielen kleinen Unachtsamkeiten in dieser deutschen Ausgabe, in der die Chance vertan wurde, viele kleine Irrtümer, die aus französischer Sicht vielleicht belanglos oder verzeihlich sind, für den deutschen Leser zu korrigieren.
Damit man nicht falsch versteht: Dieses Buch ist nicht nur gut gemeint, sondern auch gut gemacht – in der Hauptsache. Es eröffnet erstmals einen wirklich der Sache angemessenen umfassenden Horizont auf die Unterdrückung fast der gesamten modernen Musik durch das Naziregime. Es neigt keiner der verfolgten Schulen oder Personen besonders zu und erreicht dadurch eine untendenziöse Gesamtdarstellung der bis heute immer noch weitgehend verlorenen europäischen Musikkultur aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Wenn, dann beachtet es absichtlich bevorzugt, zum Zwecke der ausgleichenden Gerechtigkeit, mehrmals besonders vergessene Künstler, um sie dem von den Nazis erfolgreich verhängten Totschweigen zu entreißen. Darüber gibt schon allein das Personen- und Werkregister am Ende des Bandes beredt Auskunft.
Trotzdem sind ein paar Mängel zu nennen, die ein umsichtigeres Lektorat vielleicht hätte vermeiden können. Immer noch geistert ein angeblicher Gegensatz von Kultur und Barbarei durch die Aufklärungsliteratur über die nationalsozialistische Kulturpolitik, aber deren vereinseitigter Kulturbegriff (deutsch, echt, wahr und groß) führte zum Hass auf alles Andersartige und damit in eine barbarische Dimension. Und: Es könnten auch Übersetzungsprobleme sein, aber: was ist „deutsche Seele“, positiv gemeint, und was heißt „Tonsprache“ auf französisch?
Was aus französischer Sicht besonders verwundert, ist, dass die Unterdrückung der modernen Musik und ihrer nationalen Repräsentanten in den annektierten Ländern nicht einmal für Frankreich an den Beispielen von Milhaud und Antheil näher beschrieben wird. Seltsam mutet an, dass Anton Webern der so genannten inneren Emigration zugeschrieben wird, obwohl er als „freiwillig angepasst“ tituliert wird. Immer noch hält man Zwölftontechnik und Nationalsozialismus für unvereinbar, obwohl sie sich in der Person Weberns vereinigten, eben aus Gründen eines kritikwürdigen Kulturfetischismus. Schönberg unterhielt nie eine Kompositionsklasse an der Berliner Musikhochschule, sondern nur an der Akademie der Künste. Weill hegte nie Sympathien für den Kommunismus, deshalb beendete er auch seine Zusammenarbeit mit Brecht nach 1929. Erich Doflein wird immer mal wieder gerne falsch geschrieben, so auch hier, er hieß nun mal nicht Dorflein. Alfred Goodman lebte zum Schluss in Berlin, das hätte die lebendige Witwe sicher gerne erzählt. Auch die Liste derer, die sich vereinnahmen ließen, ist länger als du Closel denkt, auch Hans Rosbaud gehörte dazu.

Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 32 (2011), S. 71f.

 

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