Chamberlain, Houston Stewart: Richard Wagner. Eine Biografie. – Bremen: Europäischer Hochschulverlag, 2010. – 526 S.
ISBN 978-3-86741-383-1 : € 69,00 (Pb.)
Was mag den Europäischen Hochschulverlag dazu bewogen haben, die bereits aus dem Jahre 1895 stammende Wagner-Biografie von Houston Stewart Chamberlain, seines Zeichens Schwiegersohn des Bayreuther Meisters, neu zu veröffentlichen? Mit Aktualität kann man bei diesem immerhin schon 116 Jahre alten Werk sicher nicht mehr argumentieren. Das Interesse geht wohl eher dahin, um es mit Goethe zu sagen: „Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht“. Chamberlain war einer der ersten Wissenschaftler, die sich mit dem Phänomen Wagner beschäftigt haben. Es ist durchaus interessant, zu den Wurzeln der Wagner-Forschung vorzustoßen. Die Ausführungen des Autors über Wagners Kunst- und Politikauffassung, seine Regenerationslehre, seine Werke und v. a. über Bayreuth lassen sich bei aller Überholtheit – diese Themen sind längst breitgetreten – gut lesen. Chamberlain schreibt flüssig und stilistisch versiert. Wenn der vorliegende Band dennoch insgesamt einen sehr zwiespältigen Eindruck hinterlässt, dann liegt das an dem biografischen Teil, der in keinerlei Hinsicht zu befriedigen vermag. In der Tat muss dringend davor gewarnt werden, sich auf Chamberlains Schilderungen von Wagners Leben zu verlassen. Eine seriöse Recherchearbeit ist dem Autor gänzlich abzusprechen. Seine Ausführungen zu Wagners Lebensweg sind äußerst lückenhaft. Viele wichtige Aspekte, deren Ergründung dem Schwiegersohn, der schon vor seiner Heirat mit Eva Wagner in engem Kontakt zu Wahnfried stand, eigentlich kein Problem gewesen sein dürfte, werden vernachlässigt oder sogar bewusst weggelassen. Für letzteres spricht, dass Chamberlain offensichtlich nicht darum bemüht ist, sich mit seinem Schwiegervater neutral auseinanderzusetzen. Vielmehr ist er lediglich darauf bedacht, Wagner so gut wie nur irgend möglich erscheinen zu lassen. Kein Wunder, dass sämtliche Aspekte, die auf den Meister ein negatives Licht werfen, von ihm bewusst unter den Tisch gekehrt werden. So wird Wagners Rolle als Revolutionär extrem heruntergespielt und nur als Missverständnis betrachtet. Sämtliche Liebesbeziehungen des Komponisten werden verschwiegen – auch die mit Mathilde Wesendonck. Dadurch erscheint Wagners Weggang aus Zürich in einem ganz falschen Licht, wie auch vieles andere. Der Sohn Siegfried wird als ehelich ausgegeben, Cosimas Ehebruch findet ebenso wenig Erwähnung wie Wagners uneheliche Töchter Isolde und Eva. Der Charakter Wagners wird zudem extrem verfälscht. Die Intention Chamberlains, das öffentliche Wagner-Bild auf diese Weise zu schönen, hat mit gewissenhafter Biografenarbeit nichts mehr zu tun und ist strikt abzulehnen. Vom historischen Standpunkt mag dieser Band durchaus interessant sein. Wer aber an einer seriösen Lebensbeschreibung Wagners interessiert ist, sollte diese recht fragwürdige Publikation meiden. Es gibt genug ehrliche Bücher über den Meister.
Ludwig Steinbach
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 32 (2011), S. 65f.