Kaiser, Reinhard: Unerhörte Rettung. Die Suche nach Edwin Geist. – Frankfurt am Main: Schöffling, 2004. – 353 S.: zahlr. Abb., Photos, Notenbeisp.
ISBN 3-89561-065-8 : € 24,90 (geb.)
Bei der Arbeit zu seinem Buch „Dies Kind soll leben“ Die Aufzeichnungen der Helene Holzman 1941-1944, für das er im Jahr 2000 mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurde, stieß der Verfasser immer wieder auf den Namen Edwin Geist, eines deutschen Komponisten, der mit der Familie Holzman befreundet war. Helene Holzman (1891-1968), Malerin und Schülerin von Max Beckmann, war mit ihrem Mann, dem Buchhändler Max Holzman, nach Kaunas in Litauen emigriert. Im Juni 1941, bei den Pogromen unmittelbar nach dem Einmarsch der Wehrmacht verschwindet ihr Mann, wenig später wird die 19jährige Tochter Marie 1941 von den Nazis erschossen. Helene Holzman überwindet ihre Verzweiflung und beschließt, nicht nur die eigene jüngere Tochter Margarete (*1924), der die Erinnerungen gewidmet sind, zu retten, sondern mit ihr so viele andere Gefährdete und Bedrohte wie nur eben möglich. Zwei davon waren Edwin und Lyda Geist.
Wer war dieser Edwin Geist, von dessen Biographie und Werk heute in Deutschland überhaupt nichts mehr bekannt ist? Diese Frage ließ Reinhard Keiser nicht mehr los, und so machte er sich in Bibliotheken, Archiven, Einwohnermeldeämtern, etc. auf die langwierige Suche nach Edwin Geist.
Die vielen kleinen Fundstücke, die größtenteils aus der Litauer Zeit stammen, können nur diesen kurzen Zeitraum erhellen, die rechtliche Biographie bleibt weitgehend bruchstückhaft oder ganz im Dunkeln. Fest steht, dass Edwin Geist am 31. Juli 1902, wahrscheinlich als einziges Kind seiner Eltern, geboren wurde. Sein jüdischer Vater starb schon vor dem Ersten Weltkrieg. Edwin Geist muß in Berlin eine Ausbildung als Komponist gemacht haben, wo und bei wem, ist reine Spekulation. In zeitgenössischen Nachschlagewerken findet sich sein Name genau viermal: 1938 in der 3. Aufl. des von Hans Brückner und Christa M. Rock herausgegebenen Buches Judentum und Musik – mit dem ABC jüdischer und nichtarischer Musikbeflissener sowie 1940 in Theo Stengers und Herbert Gerigks Lexikon der Juden in der Musik. Dort wird Edwin Geist, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Litauen aufhielt, als „Halbjude“ bezeichnet. Das Deutsche Bühnenjahrbuch erwähnt ihn für die Saison 1924/25 als Korrepetitor am Stadttheater Stettin und für 1928/29 als Kapellmeister am Schauspielhaus Zürich. Nach Zürich brachte er Alexandra Brodowsky mit, die er 1928 in Berlin geheiratet hatte; die Ehe wurde 1931 geschieden. Die Töchter aus Alexandras zweiter Ehe geben dem Autor wertvolle Hinweise, u. a. Photos, auf denen Geist abgebildet ist. Merkwürdigerweise ist den Freunden in Litauen nichts von einer ersten Ehe bekannt.
1937 erhält Geist Berufsverbot durch die Reichsmusikkammer; er beendet noch heimlich seine Oper Die Heimkehr des Dionysos und besucht vermutlich im Frühjahr 1938 die seit Ende des Ersten Weltkrieges selbstständige Republik Litauen. Er besucht Freunde in der Hauptstadt Kaunas, die sich nach langer politischer und kultureller Abhängigkeit von Russland und vorher von Polen dem Westen gegenüber öffnet. Geist ist auch begeistert von der Musikalität der Einheimischen, vom litauischen Volkslied und – von der Pianistin Lyda, die er bei seinen Freunden kennenlernt und ein Jahr später (1939) heiratet. Die Freiheit währt nicht lange; im Juni 1940 wird Litauen von der Roten Armee besetzt, und ein Jahr später beginnt die deutsche Wehrmacht ihren Krieg gegen die Sowjetunion. Pogrome in Kaunas und anderen Orten bilden den Auftakt zur systematischen Ermordung der Juden in Litauen. Am 12. August 1941 müssen auch Edwin und Lyda ins Ghetto ziehen. Im März 1942 kann Geist unter der Bedingung, sich von seiner Frau zu trennen, das Ghetto verlassen. Am 28. März beginnt sein Tagebuch für Lyda, das er bis zum 31. August, dem Tag ihrer Freilassung, führt. Er schildert darin seine Gefühle ihr gegenüber, seine Bemühungen, sie zu befreien und seine eigenen Befindlichkeiten. Zusammen mit den Erinnerungen von Helene Holzman entsteht das Bild eines komplizierten, weltfremden und egozentrischen Künstlers, der den Ernst der Lage manchmal verkennt und zu blauäugig agiert. Ohne die tatkräftige Unterstützung von Helene Holzman und ihren Freunden wäre die Befreiung vermutlich nicht gelungen. Das Glück der Rettung ist nur von kurzer Dauer. Geist weigert sich, seinen Beruf als Komponist und Musiker aufzugeben und eine andere Arbeit anzunehmen. Lyda als die praktischere organisiert den Lebensunterhalt. Am 3. Dezember 1942 wird Geist in seiner Wohnung verhaftet und ins Ghetto zurückgebracht; am 10. Dezember wird er erschossen. Einen Monat später nimmt sich seine Frau das Leben.
Das Buch schildert auch noch die Geschichte einer zweiten Rettung:
Ein junger Geiger bricht in die nach Lydas Tod versiegelte Wohnung ein und bringt die Kompositionen Geists in Sicherheit.
1969 wird in Litauen ein Stück mit dem Titel Das Kainsmal aufgeführt, das die Geschichte von Edwin Geist und seiner Frau erzählt. Es basiert sehr freizügig auf Geists Tagebuch. Später wird das Stück verändert und unter dem Namen Ich höre Musik auf die Bühne gebracht. So wird Edwin Geist zwar nicht vergessen, er wird aber zum antifaschistischen Musikmärtyrer stilisiert; die jüdische Herkunft wird verschwiegen, weil sie nicht ins Bild passt.
Die jüdische Herkunft ist auch der Grund, warum 1972 nach einem Besuch des litauischen Dirigenten Domarkas in Berlin (bei dem er dem Kulturministerium Handschriften aus dem Nachlaß von Geist übergab) die DDR-Zeitschrift Die Welt einen Reporter zu Margarete Holzman (die mittlerweile in Gießen lebt) schickt, der ausführliche Bericht über Edwin Geist jedoch nie veröffentlicht wird.
Reinhard Kaisers Buch enthält Schwarzweiß-Photos, eine Zeittafel und ein Werkverzeichnis.
Es schildert einmal mehr ein trauriges Kapitel deutscher Geschichte; die Geschichte eines Komponisten, die beinahe ausgemerzt worden wäre. Reinhard Keiser hat Edwin Geist davor bewahrt, und das ist die dritte Rettung.
Edwin Geist wollte die Oper erneuern; er schrieb zwei Opern, viele Lieder, Chorstücke und eine kleine deutsche Totenmesse. Der Komponist sah sich selbst in der Tradition der Moderne des 20. Jahrhunderts und entdeckte zugleich Gemeinsamkeiten mit der litauischen Volksmusik, deren atonale Momente er auch in einem Aufsatz untersuchte. Er veröffentlichte Beiträge in namhaften Musikzeitschriften.
Wie sein Werk genau einzuordnen ist, muss vorerst offen bleiben, erst häufigere Aufführungen und musikwissenschaftliche Studien werden da Klarheit schaffen. Ein Anfang wurde gemacht:
2002 wurde im Russischen Theater in Vilnius zum ersten Mal Geists Musikschauspiel Die Heimkehr des Dionysos aufgeführt. Drei Lieder, die Edwin Geist schon Ende der zwanziger Jahre für seine Geige spielende erste Frau und sich selbst als Sänger geschrieben hatte, und deren Partituren Reinhard Kaiser bei seinen Recherchen in Kaunas geschenkt bekam, wurden im Frühjahr 2004 im Hessischen Rundfunk uraufgeführt.
Jutta Lambrecht
Zuerst veröffentlicht in FM 26 (2005), H. 1