Mozart und die europäische Spätaufklärung / Hrsg. von Lothar Kreimendahl. – Stuttgart: Frommann-Holzboog, 2011. – 440 S.: 2 Abb. (problemata ; 148)
ISBN 978-3-7728-2538-5 : € 148,00 (br.)
Dieser Sammelband ist eine durchaus unentbehrliche Spätlese einer löblichen Bemühung anlässlich des Mozart-Jahres 2006, nämlich das „Phänomen Mozart“ in jenen kultur- und ideengeschichtlichen Kontext zu stellen, aus dem es auch real entsprungen war (s. die Rez. der Bände Mozart. Experiment Aufklärung, Essayband und „Mozarts Lebenswelten“, FM 2008, S. 350). Hier werden aber noch ganz andere Akzente gesetzt und bisher vernachlässigte Aspekte durchaus neuartig behandelt und durchdacht. Jahrelang hat der Rezensent darauf gewartet, dass einmal Klarstellungen erscheinen, die philiströse Entstellungen einiger Opernfiguren Mozarts mit Hilfe historischer Forschungen über Mozarts Zeitalter korrigieren würden. Nun kann man endlich solche Korrekturen aus dem Geist der Aufklärung und der historischen Aufklärungsforschung nachlesen.
Klaus Oehl verknüpft Mozarts zweiaktige ernste Kurzoper Zaide, die kein happy end hat und wegen fehlender Dialoge und/oder Rezitative, nicht aber (wie gerne behauptet) wegen eines fehlendes 3. Aktes, als Fragment angesehen werden muss, mit Voltaires antidespotischem Trauerspiel Zaïre, zu dem ein anderer Salzburger, Michael Haydn, eine türkenopernhafte Schauspielmusik schrieb. Ralph Koenen untersucht, wie gerade durch ein neuartiges „lieto fine“ der Idomeneo-Stoff in Mozarts Bearbeitung eine sozialutopische und mythenkritische Dimension bekommt. Thomas Seedorf zeigt anhand eines hochkomplexen Quartetts aus Mozarts Entführung verschiedene musikdramatische Formen der Überwindung von Eifersucht: Blonde klärt ihren Pedrillo sekundenschnell in einer Generalpause durch eine Ohrfeige auf, erst Susannas Enttäuschung und Verzweiflung heilt ihren Belmonte. Für Michael Stegemann bringt Mozart mit gewagten Tänzchen die gesellschaftlichen Hierarchien ins Wanken. Kurt Bayertz stellt endlich klar, dass der Don Giovanni Mozarts kein faszinierendes erotisches Genie, sondern ein verdammungswürdiger Schurke ist, dessen Triumphe hinter ihm liegen, mit dessen erster Niederlage die Oper einsetzt und mit dessen verdientem Untergang sie endet. Lothar Kreimendahl errettet Don Alfonso aus Mozarts Così von dem hartnäckigen Vorwurf, ein Zyniker zu sein und zeigt ihn als den lachenden epikuräischen Philosophen, der den Treuetest aus Treue zur unberechenbaren, amoralischen, freudespendenden Liebe inszeniert. Wilhelm Seidel und Jan Assmann zeigen Mozart in seiner Zauberflöte als doppelten Aufklärer: er klärt auch über die Grenzen einer Aufklärung à la Sarastro auf und lässt Pamina in Führung gehen. Wolfgang Proß und Laurenz Lütteken befassen sich mit der neuen Bedeutung, die herrscherliche Güte im Zeitalter der Aufklärung gewonnen hatte und wie Mozart dies in seiner vera opera Titus verarbeitete. Martin Fontius packt Mozarts Begegnungen mit der Aufklärung da, wo sie am greifbarsten sind: französischerseits bei seinen Äußerungen zu Voltaire und seinen Gesprächen in Paris mit Grimm (wo Mozart merken musste, dass die Vertreter der Lumière der Musik einen diktierenden Kopf verpassen wollten) und deutscherseits mit den Vertretern des Josephinismus (und seiner Zensur) in Wien wie mit der freigeistigen norddeutschen Literatur.
Trotz seines unglaublichen Preises ist dieses Buch einer dringenden Anschaffung wert – es könnte viele Köpfe aufklären.
Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 32 (2011), S. 57f.