Keiner wird gewinnen. Populäre Musik im Wettbewerb / Hrsg. von Dietrich Helms und Thomas Phleps

Keiner wird gewinnen. Populäre Musik im Wettbewerb / Hrsg. von Dietrich Helms und Thomas Phleps. – Bielefeld: transcript, 2005. – 211 S. – (Beiträge zur Popularmusikforschung ; 33)
ISBN  3-89942-406-9 : € 22,80 (kt.)

Das Leistungsprinzip ist nicht nur in Wahlkampfzeiten ein bevorzugt formuliertes Schlagwort. Lapidar heißt es dann oft, dass Leistung sich wieder lohnen müsse. Gesellschaftlicher Konsens herrscht aber auch darüber, dass dieser Lohn nicht vom Grad des Wollens abhängt, sondern von der Verfügbarkeit der Ressourcen. Somit ist das Leistungsprinzip untrennbar gekoppelt mit dem Wettbewerbsgedanken – eine Verbindung  wider den olympischen Geist des bloßen Dabeiseins, die ABBA schon vor 25 Jahren postulierte: The Winner Takes It All!
Rechtzeitig zum Start der dritten Staffel von Deutschland sucht den Superstar (DSDS) ist im Bielefelder transcript Verlag eine Sammlung von Aufsätzen erschienen, die sich alle mit dem Wettbewerbsprinzip in der populären Musik auseinandersetzen. Der von den Musikwissenschaftlern Dietrich Helms und Thomas Phleps herausgegebene Band erscheint als Nummer 33 in der Reihe Beiträge zur Popularmusikforschung und enthält mit einer Ausnahme die Schriftfassungen von Vorträgen, die im Oktober 2004 bei einer Arbeitstagung des Arbeitskreises Studium Populäre Musik (ASPM) gehalten wurden. Die Einbettung der Texte in diesen ASPM-Hintergrund wirkt sich in zweifacher Weise positiv auf das Ergebnis aus. Zum einen finden sich unter den Autoren neben bereits etablierten Wissenschaftlern wie Dietrich Helms und Fred Ritzel auch solche, die noch am Anfang ihrer akademischen Laufbahn stehen und wegen ihres Alters (die Hälfte der Autoren ist nach 1970 geboren) andere musikalische Sozialisierungserfahrungen in ihre Untersuchungen einfließen lassen können.
Zum anderen fällt die große wissenschaftliche Ernsthaftigkeit in den Beiträgen auf, die sich nicht zuletzt in ausführlichen Fußnoten und Anhängen, sorgfältiger Zitierweise und detaillierter Bibliografie manifestiert.
Inhaltlich decken die Beiträge ein breites Spektrum musik- und kulturwissenschaftlicher Studien ab, auch wenn das DSDS-Format in fünf der insgesamt zehn Beiträge den Schwerpunkt bildet. Doch gerade bei den letztgenannten Texten beschäftigen sich die Autoren im Umfeld von DSDS mit so unterschiedlichen Themen wie den Potenzialen der Medienkritik (Christoph Jacke), dem Star-System (Iris Stavenhagen sowie eine Gemeinschaftsarbeit von Daniel Müllensiefen, Kai Lothwesen, Laura Tiemann und Britta Matterne) oder den Wertungskriterien der Jury (Ralf von Appen). Den wissenschaftlichen Forschungsschwerpunkten der Autoren entsprechend richten sich die Texte an verschiedene Lesergruppen.
So ist Christoph Jackes Text mit seinen Ausführungen zu drei medienkritischen Theorien für einen überwiegend musikwissenschaftlich ausgerichteten Rezipienten ohne medienspezifische Vorbildung hart an der Grenze zur Unverständlichkeit. Weniger akademisch, aber ebenfalls überzeugend befasst sich dagegen Marc Pendzich mit dem Prinzip des Hit-Recyclings und untersucht die Funktion bestimmter Cover-Versionen innerhalb von DSDS sowie das geradezu bewundernswerte Kalkül  von Dieter Bohlen, mit dem dieser eigene, vormals weniger erfolgreiche Kompositionen erneut in die Popmaschinerie einspeist und große Erlöse generiert.
Die andere Hälfte der Beiträge ist jeweils einzelnen Wettbewerben gewidmet, wodurch sich jeder Autor in seiner wissenschaftlichen Betrachtung  wangsläufig beschränken muss. Während sich Fred Ritzel und Guido Fackler zwei Aspekten des Wettbewerbsgedankens zur Zeit des Nationalsozialismus widmen (Tanzmusikwettbewerbe vor dem zweiten Weltkrieg sowie Liederwettbewerbe in Konzentrationslagern), untersucht Irving Wolther das Dilemma des Eurovision Song Contests. Besonders hervorgehoben sei jedoch Carsten Heinkes Beitrag über brasilianische TV-Festivals als Bühne des Protests und der Innovation. Gut lesbar und mit einer Fülle von Informationen versehen, widmet sich Heinke einem hierzulande nur selten behandelten Thema. Seiner zurzeit entstehenden Promotion über brasilianische Popmusik in den 1960er Jahren sei an dieser Stelle gutes und schnelles Gelingen zu wünschen. Sehr informativ ist auch der Einleitungstext von Dietrich Helms über Geschichte und Theorie von musikalischen Wettbewerben, den Helms auf die Kommunikationstheorie von Niklas Luhmann aufbaut. Einzelne Autoren beziehen sich in den folgenden Beiträgen immer wieder auf Helms’ Beitrag.
Den Initatiatoren der Tagung und den Herausgebern dieser Publikation ist zu danken, dass sie sich dieses Themas angenommen haben. Schließlich können sie auch so manches Vorurteil beseitigen, denn vor einem durch das Publikum und einer kleinen Expertenrunde ermittelten Superstar braucht niemand Angst zu haben. Der Untergang der Kultur ist dadurch nicht zu erwarten, schließlich zieht sich der Wettbewerbsgedanke seit Jahrtausenden durch die Menschheitsgeschichte. Es bleibt zu wünschen, dass sich auch weiterhin Forscher mit dieser Thematik befassen und Aspekte aufgreifen, die in diesem Band nicht berücksichtigt wurden: Stellenausschreibungen in Musikzeitungen (die unweigerlich zu Wettbewerb unter den Jobsuchenden führen), Jugend musiziert oder – allgemeiner – die Bedeutung kulturdarwinistischer Tendenzen zur Sicherung des Fortbestands von Musik (oder deren Urheber und Interpreten). Der Anfang ist auf jeden Fall mit dieser höchst lesenswerten Publikation gemacht.

Michael Stapper
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 26 (2005), S. 460ff.

 

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