Hans A. Neunzig: Dietrich Fischer Dieskau. Ein Leben in Bildern

Neunzig, Hans A.: Dietrich Fischer-Dieskau. Ein Leben in Bildern. – Berlin: Henschel, 2005. – 208 S.: 280 s/w und 20 farbige Abb.
ISBN 3-89487-499-6 : € 34,90 (geb.)

Druckerzeugnisse über Leben und Werk Prominenter bietet der Markt en masse. Großformatige Bildbände von rein monographischem Fokus werden buchstäblich nur unbestrittenen Ikonen oder überragenden Ausnahmepersönlichkeiten zuteil. Dietrich Fischer-Dieskau, Inbegriff der schier superlativischen Gesangsinterpretation im vergangenen Säkulum, wurde 1995 zum 70. Geburtstag mit einer mehrfach aufgelegten Biographie von Hans A. Neunzig gewürdigt. Derselbe Autor sah mit dem 80. Geburtstag des Jahrhundertsängers am 28. Mai 2005 die Zeit gekommen, den Sprung vom primär Verbalen zum Optischen zu wagen und vorzulegen.
Einen exegetischen Schlüssel zu seinem visuellen Fischer-Dieskau-Porträt stellt Neunzig an den Anfang. „Wer vergleichend auf die Fotos von Dietrich Fischer-Dieskau blickt, trifft als Konstante auf eine spezifische Haltung, in der sich geistige und körperliche Komponente des Begriffs vereinen. Diese Haltung hat etwas mit aufrechtem Gang und freiem Atem zu tun, mit gespannter Aufmerksamkeit und sich der Welt öffnendem Ausdruck, mit – um dem Sänger gerecht zu werden – Einatmen und Ausatmen.“ (S. 7) Mit welcher Fortune für ein subtiles Ineinandergehen verschiedenartigsten Bild- und Dokumentationsmaterials, mit welch glücklicher Hand für ein stimmiges Arrangement des Tatsachenberichts mit den Kolorismen aller einsehbaren Milieus und Zeitgeist-Fragmente der Autor sein Unternehmen konzipiert und durchorganisiert hat, kommt bereits beim Vor- und Zurückblättern durch die 24×27 cm großen Buchseiten vor Augen, mehr noch beim Abgleich zwischen der Lektüre des (keineswegs beiläufigen) Textteils und dem Betrachten der raumgreifenden Illustrationsfolge (regulär ein bis drei Repros verschiedener Größe pro Seite).
Vorab verweist Neunzig auf die spezifische Mitteilungsidiomatik des photographischen Mediums. Die Veränderungen im Erscheinungsbild des Künstlers korrespondieren naturgemäß mit den Wandlungen der Zeitläufe.
Doch klingt bis in unsere Gegenwart die Erinnerung an das auch moralisch und kulturell verheerende Inferno des Zweiten Weltkriegs nach, innerhalb dessen frühester Aufarbeitung man gerade auf die Glaubwürdigkeit der Kunst größte Hoffnungen setzte. Und wer, so Neunzig, „hätte sie augenscheinlicher verkörpern können als jener schmächtige, hochaufgeschossene junge Mensch, der im zerstörten Berlin der Jahre 1947/48 seine Stimme hören ließ?“ (S. 8) Tendenziell chronologisch werden insgesamt 13 Kapitel zu biographischen Entwicklungsstufen, künstlerischen Schwerpunkten oder beides Verbindendem aufgeschlagen. Über „Herkunft und frühe Jugend“ im väterlichen Zehlendorfer Haus des Altphilologen und Schulreformers Dr. Albert Fischer-Dieskau informieren neben Privatfotos auch zahlreiche Schriftdokumente. „Studium, Krieg, Gefangenschaft und glückliche Heimkehr“ stehen vor der ersten zentralen Abteilung „Wagnis und Erfolg. Ein neues Singen“. Dem Einstieg mit Liedaufnahmen beim RIAS folgt hier ein differenziertes Panorama stilisierender Szenenfotos zu exemplarischen Bühnenpartien und ihren Fischer-Dieskauschen Metamorphosen: Posa, Wolfram, Almaviva, Jochanaan, Amfortas, Don Giovanni, Falstaff. Auch treten Furtwängler, Wieland Wagners Bayreuth sowie prominente Klavierbegleiter, an der Spitze selbstredend Gerald Moore, auf den Plan. Und wie „Frühe Begegnungen mit der musikalischen Moderne“ – darunter etwa Busonis Faust und produktive Kontakte zu Frank Martin oder Hindemith – durch privatissime konserviertes Familienidyll der jungen Fischer-Dieskaus nebst Kindheitsepisoden der musikalisch arrivierten Söhne konterkariert werden, wie „Jahre der Meisterschaft“ (repräsentiert durch gestalterisches Hochplateau à la Mandryka, Herzog Blaubart, Mathis oder Mittenhofer in Henzes Elegie für junge Liebende und die Freundschaft zu Benjamin Britten) mit dem frühen Tod seiner geliebten ersten Frau, der Cellistin Irmgard geb. Poppen, 1963 in tiefe Depression stürzen, so kommt unter „Lebenskrise und der Weg aus dem Tal“ im Gegenzug eine Fülle von Schaffensaspekten hinzu, die aufführungs- und rezeptionsgeschichtlich fortan unlösbar mit Fischer-Dieskau assoziiert werden (müssen), seien es Partien wie Barak, Dr. Schön oder Danton, sei es Wotan unter Karajan oder die auch menschlich idealtypische Symbiose mit Svjatoslav Richter.
Zwei Kapitel zum Dirigenten Fischer-Dieskau – im ersten tritt 1973 mit seiner vierten und heutigen Ehefrau Julia Varady neues Glück in sein Leben – flankieren „Jahre der Reife“ (wichtige Weggefährten: Sawallisch, Böhm; Schaffensinhalte: Partie Hans Sachs, Moderne der siebziger Jahre unter anderem mit persönlich zugedachter Titelrolle in Reimanns Lear, Tourneen, Schubertiade Feldkirch und Schwarzenberg, Kurse, Rezitationen). Ins nämliche Kapitel integriert, zeigt ein Abschnitt zum Maler Fischer-Dieskau in geschlossener Folge eine kolorierte Auswahl von Gemälden aus den Jahren 1967 bis 2004 – „Zeit zu schreiben“ rückt den unermüdlich aktiven Musikschriftsteller Fischer-Dieskau ins Blickfeld, „Zeit zu feiern“ den vielfältig offiziell Geehrten.
Berechtigter Ehrerbietung und respektvoller Huldigung statt historischkritischer Distanz verschreibt sich insgesamt auch die Darstellung durch Hans A. Neunzig. Vor allem eignet ihr etwas heutzutage selten Gewordenes: Herzlichkeit, Anteilnahme, Wärme. Nehmen doch profunde Sachkenntnis und ein großzügig ausgebreiteter Quellenschatz mit hochrangigen Chronisten- und Pressestimmen hier ebenso für sich ein wie eine wohltuende Prise freundlichen Humors oder liebevoll augenzwinkernden Hintersinns, der zumal manche Bildunterschrift zu einer kleinen Pointe verdichtet. Nicht weniger bezeugt eine Publikation dieser Art einmal mehr, wie viele Facetten es selbst noch an den legendärsten Zelebritäten zu entdecken gilt, wenn es sich um derart multiple Begabungen handelt wie Fischer-Dieskau.

Andreas Vollberg
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 26 (2005), S. 247ff.

 

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