Carsten Wergin: Kréol Blouz. Musikalische Inszenierungen von Identität und Kultur

Wergin, Carsten: Kréol Blouz. Musikalische Inszenierungen von Identität und Kultur. – Köln [u.a.]: Böhlau, 2010. – 211 S.: Abb.; Audio-CD (Musik – Kultur – Gender ; 7)
ISBN 978-3-412-20442-6 : € 34,90 (kart.)

La Réunion, die kleine Insel im Indischen Ozean, eine halbe Flugstunde von Mauritius entfernt, hat einen ungewöhnlichen Status. Trotz ihrer geografischen Lage auf der südlichen Halbkugel zählt sie nach langer Kolonialzeit heute als französisches Überseedepartment  sowie als Teil der sog. „Europäischen Ultraperipherie“ zu Europa. Als die französische Kulturpolitik Anfang der 1980er Jahre Dezentralisierungsmaßnahmen beschloss, rückte die lokale Kultur, die sich aus einer Vielzahl afrikanischer, asiatischer und europäischer Einflüsse zusammensetzt, stärker in den Vordergrund. Zum Bindeglied in dem schier unüberschaubaren sprachlichen und kulturellen Wirrwarr wird die Musik, in der die Menschen sowohl von ihrer gewaltvollen Vergangenheit als auch von ihrem Alltag und ihrer Zugehörigkeit zur kreolischen Gemeinschaft erzählen. Wie sich die Wahrnehmungen réunionesischer Identität und Kultur mit Hilfe der Musik entwickelt haben, macht der Kultur- und Musikwissenschaftler Carsten Wergin zum Gegenstand seiner Dissertation. Sie basiert auf einer einjährigen ethnografischen Forschung im Jahr 2003, in deren Verlauf Wergin Geschichten von Musikern über sich selbst und ihre Kultur gesammelt, Interviews geführt, unzählige Konzerte besucht und teilweise selbst als Musiker in einer Band gespielt hat.
Auch für Laien nachvollziehbar, zeichnet der Autor in „Kréol Blouz“ den Wandel von einer kultur- zu einer marktstrategischen Inszenierung réunionesischer Musik nach, deren Rahmenbedingungen vor allem vom „Pole Régional des Musiques Actuelles“ (PRMA) festgelegt werden. Der PRMA, der Musiker fördern und auf dem Weg in die Professionalität begleiten soll, entscheidet darüber, welche Bilder von La Réunion konstruiert und welche Musikstile gefördert werden. Fest im Blick haben die Verantwortlichen dabei den internationalen World Music-Markt. Um hier Aufmerksamkeit zu erregen, muss das exotische Image der Tropeninsel, das Andersartige, transportiert werden, während es unter den vielfältigen Musikstilen vor allem die energiegeladene Maloya-Musik ist, die mit dominanter Perkussion für Widerstand und Abgrenzung gegenüber Frankreich steht – auch wenn eine Revolution nie stattgefunden hat.
Dass sich viele Musiker in dieser musikalischen Inszenierung nicht wiederfinden, liegt auf der Hand. Sich den Kriterien des internationalen Musikmarkts zu unterwerfen und trotzdem eine eigene Kultur zu inszenieren, wird – so Carsten Wergin – eine Aufgabe für die Zukunft bleiben. Ein informatives Buch über die Verortung einer gemeinsamen Identität und die Gesetze des Musikmarkts. Dankenswerterweise hat der Autor dem Buch eine CD beigefügt, die die Vielfalt der hier weitgehend unbekannten Musikstile hörbar macht.

Friedegard Hürter
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 31 (2010), S. 288f.

 

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