Carl Dahlhaus und die Musikwissenschaft. Werk Wirkung Aktualität / Hrsg. von Hermann Danuser, Peter Gülke und Norbert Miller in Verbindung mit Tobias Plebuch – Schliengen: Edition Argus, 2011. – 440 S.: Notenbsp.
ISBN 978-3-931264-76-5 : € 49,00 (kt.)
Carl Dahlhaus (1928–1989) war in der deutschen Musikwissenschaft nach 1945 eine Ausnahmeerscheinung. Seine Art, Musikwissenschaft zu treiben, konnte in der Zunft nicht wirklich Schule machen und fand bestenfalls schlechte Nachahmer, gerade weil sie eine Ausnahme war und auch nach seinem Tode blieb. Einige seiner Schüler hängen sich gerne an ihn, weil sie damit hoffen, einer von ihnen repräsentierten, sich neuartig und besser als früher dünkenden Musikwissenschaft eine gewisse (selbst)kritische Orientierung zu geben. Diese Alibi-Rolle hat Dahlhaus eigentlich nicht verdient. Er war, wie Birgit Lodes lakonisch feststellte, ein kluger Kopf, aber einer, dessen überspannte Klugheit ihn auch daran hinderte, die Grenzen einer allzu klugen, allein auf intellektuelle Durchdringung von Musik als Text ausgerichteten Wissenschaft zu erkennen. Denn er war eben auch ein dogmatischer Kopf, der geneigt war, ein musikalisches Denken zu negieren, das sich als ein anhörendes Denken versteht und bereit ist, Musik in ihrem klingenden Vollzug als das eigentlich gemeinte Kunstwerk, um das es gehen sollte, wahr- und ernstzunehmen.
Und so hilft es heute gar nichts (wie in diesem Band, der eine Tagung im Juni 2008 im Berliner Staatlichen Institut für Musikforschung gekürzt und erweitert wiedergibt, nur allzu oft geschehen), einige von ihm geprägte Stichworte und Begriffe erneut aufzugreifen und nur hin und her zu wenden. Dazu gehören jene vom „Werkbegriff im emphatischen Sinne“ oder vom „Notierten (resp. nicht Notierten) in der Musik“, oder von der „absoluten Musik“, womit nicht etwa eine autonome, sich selbst genügende, wortungebundene Musik gemeint war, sondern eine ganz spezielle Idee von absoluter Musik, bei der sich – obwohl rein instrumental – das außermusikalische Ideengewimmel als Beweggrund des Komponierens wieder einschleicht. Man geht damit so um, als wäre das Dahlhaussche Begriffsgebäude das musikwissenschaftliche Ei des Kolumbus, das für immer aufrecht in der Landschaft steht und um das wie um ein goldenes Kalb der Tanz einer philosophisch erweiterten Musikwissenschaft stattfinden müsse – wie es negativ exemplarisch im Beitrag von Albrecht Wellmer geschieht.
Dahlhaus hatte in seiner Person (bis heute fast als Einziger) die bestehenden institutionellen Schranken zwischen den so genannten Disziplinen Musikwissenschaft und Musiktheorie, zwischen historischer und systematischer Musikwissenschaft und innerhalb der Musikhistoriografie zwischen alter, klassisch-romantischer und neuer Musik (trotz seines späten Einschwenkens auf den mitteleuropäischen Kanon) niedergerissen. Dabei hat er im Alleingang alle denkbaren Aspekte bis hin zu den ästhetischen in einem universell, polyhistorisch ausgerichteten, einheitlich Musik erforschenden Zugriff gebündelt, obwohl er sich auch nicht zu schade war, in analytischen Einzelstudien besondere Aspekte isoliert durchzuarbeiten. Nur der Zugang zum klingenden Kunstwerk als dem Ziel einer in der Aufführung sich konstituierenden komponierten Musik blieb ihm fast versperrt oder weitgehend versagt. Für ihn war Musikforschung ein rein philologisches Unternehmen, das sich an Notentexten und anderen kulturgeschichtlichen Überlieferungen abzuarbeiten hatte, denn schließlich hatte jedes Werk die Lösung eines musiktheoretischen Problems zu sein – der Klavierdeckel im Institut blieb einfach verschlossen, gesungen und musiziert werden durfte nicht, um des Gedankens Flug nicht zu stören. Und so wäre es durchaus angebracht gewesen, 20 Jahre nach Dahlhaus’ Tod und anlässlich seines 80. Geburtstags Glanz und Elend dieser leider gar nicht so einzigartigen Einstellung, ihre ideengeschichtlichen und methodischen Grundlagen und ihre Folgen für die Zunft zu beleuchten.
Etwas von einer solchen kritischen Beleuchtung flackert auch in einigen der Beiträge dieses Tagungsbandes auf, etwa wenn Rudolph Stephan, der sich der krisenhaften Gratwanderung zwischen einer tönenden Kunst und einer textgebundenen Wissenschaft durchaus bewusst ist, Goethe in einer weniger (als er denkt) berühmten und vor allem weniger durchdachten Maxime zitierend, darauf hinweist, dass das reife Wissen, über das Dahlhaus verfügte, wenn es dann zur Wissenschaft drängt, in eine Krise gerät. Es war ein guter Entschluss bei der Redaktion dieses Bandes, auch Stephans aufschlussreiche Gedenkrede von 1989 abzudrucken, in der der Lebensweg und die wissenschaftstheoretischen Weichenstellungen dieses Gelehrten ohne ideologische Scheuklappen offengelegt werden. Ein schon während des Kongresses als solcher wahrgenommener neuralgischer Punkt war der Vortrag von Birgit Lodes, der auch gerade in seiner Druckfassung mit Dokumentenanhang noch mehr klar macht, wie brüchig der strapazierte Werkbegriff von Dahlhaus wirklich war und wie sehr Dahlhaus an der Schwelle stand, die alte Musik in ihrer objektiven Basisfunktion für alles Spätere anzuerkennen und immer wieder in die Waagschale einer labyrinthisch-dialektisch aufgefassten Musikgeschichte zu werfen.
Und so wäre es durchaus fruchtbar gewesen, Dahlhaus mit Dahlhaus zu lesen, wie Peter Gülke es tat, und dabei auf wunde Punkte zu stoßen und selbständig weiter zu denken, statt viele in sich glatte akademische Pflichtübungen abzuliefern, die Dahlhaus als ebensolche wahrscheinlich kommentarlos abgenickt hätte und die ihn nicht weiter hätten interessieren oder nicht zu einer seiner berühmten Stegreifgedankenexplosionen hätten anregen können. Um so erfrischender, dass Tobias Plebuch am Schluss noch einmal auf unaufgelöste und unauflösbare Aporien bei Dahlhaus’ Versuch, Musik zur Sprache zu bringen, zu sprechen kommt und sich dabei auf der Höhe von Dahlhaus’ kritischem Selbstbewusstsein bewegt, nach dem man in diesem Band auch einige wenige Beiträge finden konnte, die in wohltuender, problembewusster Distanz in Analyse und Erzählung einige Pointen des Schaffens von Dahlhaus beleuchten, so Eleonore Bünings Beitrag über Dahlhaus als Musikkritiker der Stuttgarter Zeitung in den frühen sechziger Jahren und Silke Leopolds Beitrag über Dahlhaus und das Regietheater aus wirklich heutiger Perspektive.
So gibt der Band doch stellenweise, wie der Titel verspricht, Einblick in eine lebendige Aktualität einiger von Dahlhaus angestifteter Denkwege über Musik, die auch in der Zukunft ihre Relevanz nicht einbüßen werden.
Peter Sühring
Berlin, 25.11.2011