Hagen, Nina: Bekenntnisse. – München: Pattloch, 2010. – 294 S.: zahlr. Abb.
ISBN 978-3-629-02272-1 : € 18,00 (geb.)
Erst die Bekenntnisse des heiligen Augustinus und des Jean-Jacques Rousseau, nun die von Nina Hagen (*1955). Ob man auch diese in späteren Jahrhunderten noch lesen wird, ist schwer zu prophezeien, die Rock-Abteilungen deutscher Musikbibliotheken sollten für ein eventuelles Leseinteresse späterer Generationen aber jetzt schon mal vorsorgen. Denn diese autobiographischen Mitteilungen der frechen und tiefsinnigen Punklady können sich durchaus mit der Frömmigkeit des spätantiken, nordafrikanischen geläuterten Playboys und mit dem Exhibitionismus des verklemmten französischen Aufklärers messen. Mehr als Nina Hagen es ahnt, gibt sie in ihrer geschwätzigen Schnoddrigkeit viele Geheimnisse aus der unfreiwillig komischen Sozialisation der DDR-Jugend preis. Das ganze atmet durchaus den Charakter witziger Enthüllungsliteratur über allerlei Unordnung und frühes Leid.
Und sie erzählt uns ihre privaten Ursprungsmythen: warum sie Sängerin wurde (wegen der durchbrüllten einsamen Nächte in der Zelterstr. 6) und immer und immer wieder, warum sie an Gott und seinen guten Hirten auf Herden, der sie gerettet hat, ihren Herrn Jesus, glaubt (weil er sie mehrfach gerettet hat). Warum sie so rettungsbedürftig ist und ohne Gott so schutzlos wäre, erzählt sie uns nicht, sie will ja auch nicht psychologisieren, Psychoanalyse ist „faschistisch“, nimmt einem die Häute. Also bleibt ihr Spiel mit den Häuten, den Masken, den Verstellungen, dem Widerstand gegen die irdischen Aufseher und Controllfreaks.
Das ist ihr wichtigstes Lebenselixier, auch ihrer Kunst und Selbstdarstellung: der Protest gegen die seelenverwüstende Kontrolle. Dagegen hilft nur die Geborgenheit bei einem überirdischen Oberaufseher, der auch die irdischen Aufseher im Visier hat, der nicht aus Kontrollbedürfnis alles weiß und alles sieht und alles lenkt, sondern aus Liebe, Gott eben.
Sie fühlt sich von Ihm gewollt und vorherbestimmt, ER gab ihr eine Mission, die sie ausführt, Nina ist ein Werkzeug Gottes, sie hat’s nun endlich kapiert und muss es uns erzählen und vor allem die vielen aufregenden Irrwege vorher. Nun ist sie geheilt und getauft, nun singt sie nur noch fromme Lieder.
Wollen wir mal hoffen, dass der gnädige Gott, seiner auserwählten Rockerin ihren Narzissmus und ihre Grandezza verzeiht. Es scheint so. Anton Bruckner widmete seine neunte Sinfonie noch demütig dem lieben Gott. Inzwischen hat sich Gott seiner Musiker auf Erden erbarmt: Zu Nina Hagens Bekenntnissen schrieb er höchstselbst das Nachwort. Wenn den Redakteuren eines alteingesessenen christlichen Verlages das nicht wie Blasphemie vorkommt, ist es wahrscheinlich auch nur einer von Ninas punkigen Witzen und kein Zeichen von religiösem Fanatismus. Nein, Nina bleibt sich immer gleich, in Ostberlin, Amsterdam, Indien oder wieder in Ostberlin: Sie ist einfach die Schutzbedürftige, die auf den Putz haut, damit keiner merkt, dass sie Angst hat. So entsteht Musik. Na dann, bis zum nächsten Konzert! Gebetet wird nicht!
Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 31 (2010), S. 267f.