Betzner-Brandt, Michael: Chor kreativ. Singen ohne Noten – Kassel: Gustav Bosse, 2011. – 96 S. s/w-Abb., Notenbsp., 1 Audio-CD
ISBN 978-3-7649-2805-6 : € 24,95 (kart.)
Seit wann gibt es so viel Chornotenmaterial wie heute? Das Singen ohne Noten dürfte lange der Normalfall gewesen sein, doch das möchte nun wieder neu erfunden werden. Der vorliegende Band ist eine Anleitung dazu. Michael Betzner-Brandt ist Kirchen-, Schulmusiker, Dirigent, dazu Pädagoge und Philosoph. Das klassische Chorrepertoire hat er absolviert, ist nun in der Jazzchorszene erfolgreich und bietet auch Kurse an, die eigene Stimme im Ensemble zu erfahren. Damit ist er Frontmann des Deutschen Chorverbands geworden, der dem Ensemblesingen neue Wege bieten möchte. Chor als Instrument eines Dirigentendiktators, der Stücke eindressiert bis sie „richtig” sitzen, lockt kaum mehr. Man setzt auf Dirigenten als Animateure zur Entwicklung musikalischer Kreativität des Einzelnen im Ensemble.
Für dieses Ideal bietet Herr Betzner-Brandt in diesem Buch seine gesammelten Erfahrungen an. Vor allem Chorleitern, die dann auch gerne als Kurs- oder Spielleiter bezeichnet werden. Es geht von Bewegungsspielen, über Geräusch-, Raumklang-, Textexperimenten, Chorimprovisationen bis doch auch Harmoniesingen. Im Grunde werden Urformen des Musizierens neu aufgearbeitet. Gedanken zu Idee und Theorie werden geboten. Aber vor allem eine Fülle von Gestaltungs- oder Strukturmodellen, innerhalb derer die Musik aus der Gruppendynamik heraus entstehen soll. Meist praktisch auf je einer Seite vorgestellt. Mal ganz einfach für schnelle Erfolgserlebnisse, mal sehr komplex. Dann braucht es schon wieder Noten oder ein Repertoire an Handzeichen, um Anweisungen geben zu können. Womit man wieder nah am herkömmlichen Chorsingen wäre. Zu fast allen Modellen gibt es ein Hörbeispiel auf einer mitgelieferten CD, allerdings im MP3-Format und nicht auf jedem CD-Spieler abspielbar. Der Text ist meist allgemein beschreibend, wechselt aber auch oft in direkte Rede an den Chor. Man muß sich an gruppenpädagogische Rhethorik und einige Anglizismen gewöhnen.
Das Buch bietet variierbare Ideen aller Schwierigkeitsgrade. Chorleiter dürften ungewohnt gefordert sein. Sie müssen eine Rolle annehmen, diese Musik nahe zu bringen, sich dann aber eher zurückzuziehen und den Chor machen lassen. Wie man aber ein Gruppenklima erzeugen kann, in dem alle das Befremden ablegen und Mut entwickeln sich zu öffnen, wird kaum beschrieben. „Einen Groove etablieren” – das muß erst mal vermittelt werden. Auch Sänger werden merken, daß das Motto nicht Drauflosträllern ist, sondern daß viel Konzentration gefordert ist, daß Kreativität mit Erfahrung und Können zu tun hat. Belanglosigkeit ist auch Thema im Buch.
Da wird ein Weg begonnen zum Weitergehen. Es lohnt sich, solche Formen auszuprobieren. Es kann damit erstaunliche, effektvolle Musik entstehen. Wenn auch nur Elemente davon in die Chorarbeit einfliessen, wird es für Sänger und Hörer ein Gewinn sein.
Sebastian Kaindl
Berlin, 10.11.2011