Leigh, Spencer: The Beatles in Hamburg. Der Beginn einer Ära / Übers. v. M. Sailer. – Hamburg: Edel, 2011. – 128 S.: zahlr. Abb.
ISBN 978-3-8419-0076-0 : € 19,95 (geb.)
John Lennon fand – wie schon so oft – die richtigen Worte: „Wir sind in Liverpool geboren, aber in Hamburg groß geworden“ (S. 6). Gewiss, die nordenglische Hafenstadt war nie ein betuliches Refugium gewesen: Gewachsen durch den Sklavenhandel, bewohnt von Menschen mit eigentümlichem Akzent, gebeutelt vom wirtschaftlichen Niedergang, geprägt durch die Atmosphäre eines maritimen Knotenpunkts. Letzteres galt ebenso für Hamburg. Doch die norddeutsche Metropole hat auch andere Seiten. Ein tief verwurzeltes hanseatisches Selbstbewusstsein manifestierte sich nicht nur in den Villen der Elbchaussee, auch am anderen Ende des sozialen Spektrums war es zu spüren: Die Konzentration von Bars und Bordellen im Vergnügungsviertel St. Pauli war einmalig. Natürlich hatten die Beatles in Liverpool Bühnenerfahrung gesammelt – ihre Ausbildung auf der Reeperbahn aber hat das Fundament für die weitere Karriere gelegt.
Bei Edel hat man sich nun diesen Lehrjahren zugewandt. Zeitgleich mit der englischen Originalausgabe (Chicago Review Press) erscheint der von Spencer Leigh geschriebene und zusammengestellte Band. Der 1945 geborene Leigh ist in seiner Liverpooler Heimatstadt eine anerkannte Kapazität. Hauptberuflich bei BBC Radio Merseyside beschäftigt, hat er sich in den letzten Jahrzehnten ausgiebig mit der lokalen Musikgeschichte befasst und zahlreiche Bücher veröffentlicht. Mit diesem Pfund kann Leigh wuchern. Eingebettet in eine opulente Bilderschau sondiert der Autor das geografische, historische und kulturelle Terrain. Leigh vergleicht die beiden Hafenstädte, untersucht den musikalischen Nährboden, wendet sich Vertragspolitik und gastronomischer Infrastruktur zu. Und er schaut den englischen Musikern auf der Bühne über die Schulter – von den Anfängen über die 1966er Blitz-Tournee bis in die Gegenwart. Das alles besticht durch große Fachkenntnis und ein farbenfrohes, abwechslungsreiches Layout, das mit zahlreichen Zitaten gespickt ist. Empfehlenswert ist das Buch besonders wegen der inhaltlichen Ausrichtung, die sich glücklicherweise nicht auf die Beatles beschränkt. Denn die waren Anfang der 1960er Jahre nur eine Band unter vielen. Leigh beachtet deshalb die großen internationalen Stars ebenso wie deutsche Nachwuchskapellen und die große britische Konkurrenz. Zusammen mit dem 2010 veröffentlichten Beat-Club-Band von Ulf Krüger (Hannibal) liegen jetzt zwei bemerkenswerte Erinnerungsbände zur deutschen Popgeschichte vor.
Nachtrag: Vor einigen Wochen tauchte ein Brief in der Presse auf. Ein Schlagzeuger wurde zu einem Vorspiel für ein Auslandsengagement eingeladen. Der Brief stammt aus dem Jahr 1960, der Auftrittsort war Hamburg. Der Absender unterschrieb mit „Paul McCartney“. Was aus dem unbekannten Schlagzeuger geworden ist? Das Leben kann so grausam sein …
Michael Stapper
München, 14.11.2011