Lexikon Musik und Gender / Hrsg. von Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld. – Kassel [u.a.]: Bärenreiter / Stuttgart: Metzler, 2010. – 610 S.: Ill., Notenbsp.
ISBN 978-3-7618-2043-8 : € 89,00 (geb.)
Genderforschung hat mitunter etwas Militantes, wie um der hegemonialen Überlegenheit männlicher Strukturen etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen. Dass der Anspruch der Herausgeberinnen – beide Musikprofessorinnen mit entsprechendem Forschungsschwerpunkt – ein anderer ist, erschließt sich bereits im Vorwort an Hand einer Metapher, die auf überzeugende Weise verdeutlicht, wie die Verengung von Sichtweisen nachhaltig Wahrnehmung determinieren kann. Die Begradigung des Rheins im 19. Jahrhundert, einst als technische und ökonomische Höchstleistung gefeiert, offenbart heute mehr denn je ökologische Flurschäden, die zu korrigieren kaum noch möglich ist. Die musikhistorische Flussbegradigung mit ihrem Fokus auf heroische Genie-Ideale unterschlägt nämlich ein ganzes Ökosystem mit mäandrierenden Nebenflüssen, interessanten Formationen und schönen Landschaften, die sich hiermit der Betrachtung entziehen. Der historische Teil des Lexikons erschließt in chronologischen Kapiteln genderrelevante Themenfelder wie Musikausübung von Frauen, Geschlechternormen auf der Opernbühne, Musikorte für Frauen, oder er beschäftigt sich mit Frauen im Heavy Metal oder im Orchester als Blechbläserinnen oder schlagwerkende Interpretinnen. Der weitaus umfangreichere lexikalische Teil vereint Sach- und Personenartikel und vermittelt spannende und interessante Einblicke in zahlreiche Themen der musikhistorischen Genderforschung – beispielsweise auch in musikbibliothekarische oder -bibliographische Aspekte, wie mehrere kleinere Artikel der Herausgeberin dieser Zeitschrift [i.e. FORUM MUSIKBIBLIOTHEK] belegen.
Der Tonfall der Publikation ist überraschend leichtfüßig und bewegt sich dennoch auf hohem akademischem Niveau. Die gelungene Synthese aus qualitativ hohem fachwissenschaftlichen Anspruch und informativ-erzählerischer Darstellung halte ich denn auch für ein herausragendes Merkmal dieser Publikation. Die Herausgeberinnen haben sich laut Vorwort um geographisch off ene, stilistisch breit gefächerte und handlungsspezifisch weit gefasste Sichtweisen für die Darstellungswürdigkeit der Interpretinnen, Komponistinnen, Pädagoginnen oder Forscherinnen bemüht. Ein gewisser Euro-Zentrismus und E-Musik-Lastigkeit sind aber – zwangsläufig – nicht zu vermeiden. Nicht ganz nachvollziehbar ist für mich allerdings die Auswahl des weiblichen „Personals“ im lexikalischen Teil. Auf Einträge zu Anna Netrebko, Erika Köth oder Anne-Sophie Mutter hätte ich (ohne zu werten) lieber verzichtet, dafür vermisse ich Informationen zu Eva Schorr, Gisela May, Miriam Makeba, Mary Wurm oder Elena Firsowa. Diese Einschränkung sollte allerdings musikbibliothekarische KollegInnen nicht von der Anschaffung der im doppelten Wortsinn wertvollen Publikation abhalten– die hoffentlich viele weitere Publikationen zu diesem Themenfeld anregt.
Claudia Niebel
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 31 (2010), S. 261f.