Scheideler, Ullrich: Komponieren im Angesicht der Musikgeschichte. Studien zur geistlichen a-cappella-Musik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Umkreis der Sing-Akademie zu Berlin – Berlin: Mensch und Buch Verlag, 2010. – 577 S.: Notenbsp. (Musikwissenschaft an der Technischen Universität Berlin ; 11)
ISBN 978-3-86664-833-3 : 59,00 € (kart.)
Dieses ausgezeichnet recherchierte, gut durchdachte und gegliederte Buch ist als Resultat eines Promotionsverfahrens mit allen Meriten akademischer Verfahrensweisen ausgestattet – und darüber hinaus auch ein Durchbruch für alle an den Windungen und Wendungen, Irrungen und Wirrungen der Musikgeschichte und ihrer Historiografie interessierten Wissenschaftler, Lokalhistoriker und an Aufführungen geistlicher a-cappella-Musik jenseits des schnöden Kanons interessierten Musiker. Denn hier wird ganz unaufgeregt und sehr sachlich und gediegen einem Gerücht der Garaus gemacht, das besagt, um 1800 und in den dann folgenden Jahrzehnten hätte es in Berlin eine romantisch inspirierte Restauration der Werke Giovanni Pierluigis da Palestrina gegeben. Wie komplex in Wirklichkeit der Rückbezug auf die alt-italienische Kirchenmusik, resp. die Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts war, wird in dieser ideengeschichtlich und werkanalytisch orientierten Arbeit entfaltet.
Zwar kann sich Scheideler auf einige schon vorangegangene Bausteine für eine Korrektur dieser Legende (die sich, ausgehend von Heinrich Besseler, immer weiter verbreitete) stützen, aber wirkliche Überzeugungskraft gewinnen seine Thesen erst durch erstmals angestellte in- und extensive Analysen von Werken jener Komponisten, die bisher in dem Verdacht einer solchen epigonalen Palestrina-Nachfolge gestanden hatten: C.F.Chr. Fasch, Otto Nicolai, Felix Mendelssohn, Peter Cornelius und Bernhard Klein, sowie Eduard Grell. Reichardts und E.T.A. Hoffmanns eher schwärmerisch veranlagte Begeisterung für Palestrina war mehr die bloß symbolische Verehrung eines Phantoms, von dem man zwar den (übrigens falschen) Namen kannte aber nicht die Werke oder sich auf Werke bezog, die leider nicht von ihm waren (wie die Responsorien von Ingegneri). Aufgefunden, abgeschrieben, gedruckt und aufgeführt wurden Werke von Pierluigi da Palestrina erst jenseits der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts. Auch kann von einem einheitlichen „Palestrina-Stil“ bei diesem Komponisten selber gar keine Rede sein. Und so zerfällt nicht nur von Palestrina und dessen zweifelhafter Verehrung her gesehen dieser Mythos in sich zusammen, sondern die konkrete kompositorische Hinterlassenschaft der genannten und gemeinten, angeblich Palestrina nachahmenden Komponisten ergibt ein völlig anderes Bild. Sie haben sich an der Setzart von ihnen bekannt gewordenen Kompositionen ganz anderer Komponisten alt-italienischer Kirchenmusik orientiert, haben diese in Abkehr von den Errungenschaften der weltlichen Musik ihrer Zeitgenossen weniger nachgeahmt, sondern produktiv aktualisiert und haben dabei jeweils eigene Wege beschritten, die von Scheideler im Detail aufgezeigt werden. Die Zuspitzung auf „Palestrina“ und einen angeblich von ihm gestifteten reinen, erhabenen, heiligen Kirchenstil ist eine Fiktion, die kurzzeitig von Hoffman genährt wurde, aber schon kurz danach von seriösen Musikhistorikern wie Winterfeld und Kiesewetter relativiert wurde und der die kirchenmusikalischen Kompositionen des Berliner Kreises gar nicht folgten.
Das Verhältnis der ideengeschichtlichen Einleitung, die die „Voraussetzungen und Kontexte“ dieser Debatte und der konkreten Musikproduktion dieser Zeit und an diesem Ort beschreibt, zu dem werkanalytischen Teil des Buches beträgt 1:4. Man kann sich also den Aufwand an satztechnischer und ästhetischer Analyse, den Scheideler bewusst und sehr zum Vorteil von Anschaulichkeit Überzeugungskraft treibt, vorstellen, und man geht bereichert aus der Lektüre (dem Vergleich von altem “Vorbild” und Aktualisierung), hervor. In vier Anhängen werden die breit gestreuten, vielfältigen Beispiele älterer Kirchenmusik dokumentiert, die teils in den damaligen Jahrgängen der Allgemeinen musikalischen Zeitung (AmZ), teils in zeitgenössischen Sammelbänden, teils in den privaten Nachlässen von Nicolai und Klein zu finden sind. Der einzige Komponist, dem sich ein restauratives, lediglich epigonales Anlehnen an Palestrinas Techniken nachsagen ließe, wäre Grell in etwas späterer Zeit.
Präziser und im Ergebnis schlagender als Scheideler es tut, kann man musikhistorische „große“ Erzählungen nicht destruieren.
Peter Sühring
Berlin, 13.09.2011