Gülke, Peter: Auftakte – Nachspiele. Studien zur musikalischen Interpretation. – Stuttgart, Weimar: Metzler, 2006. – X, 294 S.: Notenbeisp.
ISBN 3-476-02122-X: € 39,95 (geb.)
Seine exzeptionelle Personalunion von hochrangigem Orchesterleiter und bewunderter Ikone der zeitgenössischen Musikexegese prädestiniert Peter Gülke zu einer der zuverlässigsten Quellen, wenn es um die metierkundige Durchleuchtung des Zusammenspiels von Theorie und Praxis geht. So ist es dem heute 73-Jährigen besonders zu danken, dass er 24 großenteils verstreut, mitunter auch noch nicht publizierte Einzelbeiträge aus 40 Jahren zusammengetragen und ihnen nicht weniger als 50 neu geschriebene „Momentaufnahmen“ – auch sie bedienen facettenreich das Oberthema Interpretation – beigefügt hat. An dieser Stelle die unverwechselbaren Sonderqualitäten des Gülke-Oeuvres en détail zu referieren, käme einem uferlosen Repetitorium unzähliger Laudatien auf den Musicus doctus aus Weimar gleich. Dennoch sei konstatiert: Das unvergleichliche Reflexionsniveau, das ganzheitliche Zusammendenken kulturgeschichtlicher Faktoren, die Epiphanie überraschender Meta-Ebenen, die subtil fokussierende Werkanalyse, die stetige Projektion philosophischer Ansätze in diagnostizierte Musikphänomene, die enorme Belesenheit und stupende Sprachphantasie ziehen hier, wo derart Brisantes zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Musikerlebens diskutiert wird, einmal mehr in Bann.
Einleitend opponieren Arbeiten über wissenschaftliche Edition versus Musikpraxis, Urtext und historische Aufführungspraxis gegen das „Schisma von Theorie und Praxis“ (S. 13). Nach einem Schlaglicht auf die Entwicklung des klassischen Orchesters kommen kompositorische Einzelaspekte bei Mozart (Coda, Arie) und Beethoven („virtuelles Komponieren“ als produktive Nutzung instrumententechnischer Defizite) zur Sprache. Bei den reproduzierenden Künstlern, zu deren kritischer Würdigung Gülke eine Serie dezidiert personenspezifischer Studien ausgewählt hat, handelt es sich ausschließlich um Maestri von Epochenrang: Bülow, Toscanini, Furtwängler, Abendroth, Karajan, Jochum, Wand, Kleiber jun. Und an Mahler manifestiert sich paradigmatisch eine der dialektisch angelegten Zentralhypothesen des Buchs: „,Komponierendes Interpretieren‘ versus ‚interpretierendes Komponieren‘“ (S. 113). Anderes Beispiel: der Umstand, dass „historische“ Musik „lebendig“ sein kann und umgekehrt. Inspiriert von den Schlagwörtern „Meisterwerke“, „Dirigentenbild“, „Kommerz“ und „Klang“, vermittelt Gülke Erhellendes zur Relativität von Musikbegriffen sowie zu den Grauzonen zwischen terminologisch fixierten Komponenten von Produktion und Rezeption.
Zumal in persönlich Erinnertem oft intendiert subjektiv und empathisch, transzendieren die „Momentaufnahmen“ die in Notentext und Musikerlebnis vorderhand zufällig erspähten Einzelheiten zu Exempla von Allgemeingültigem (z. B.: Bedarf hermeneutischer Reflexion an Rückhalt in der Praxis = „Nachhilfe in Gadamer“; S. 288–289).
Andreas Vollberg
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 28 (2007), S. 194f.