Ian Strasfogel: Ignace Strasfogel. Die Wiederentdeckung eines musikalischen Wunderkinds / Aus dem Engl. übersetzt von Tim Schneider. – Leipzig: Hentrich & Hentrich, 2020. – 90 S.: s/w Abb. (Jüdische Miniaturen ; 257)
ISBN 978-3-95565-389-7 : € 8,90 (Broschur)
Kolja Lessing: Ignace Strasfogel. Leben und Werk. – Neumünster: von Bockel, 2023. – 308 S.: s/w-Abb. (Verdrängte Musik ; 24)
ISBN 978-3-95675-037-3 : € 25,00 (geb.)
Es kommt nicht alle Tage vor, dass sich, in kurzem Abstand, gleich zwei Publikationen einem ns-verfolgten Komponisten widmen. Einem Künstler, mit dessen Namen heute nur mehr Spezialisten etwas anzufangen wissen. Dabei lassen die Stationen dieser Musikerbiographie aufhorchen. Im Frühjahr 1923 wird Ignace Strasfogel, gebürtig zu Warschau 1909, jüngster Student an der Berliner Staatlichen Hochschule für Musik. „Außerordentlich musikalisch” vermerkt das Prüfungsprotokoll über den 13-Jährigen, empfiehlt Weiterleitung in die Kompositionsklasse Franz Schreker, in die Klavierklasse Leonid Kreutzer. Die Karriere startet. Mit ersten Werken macht Strasfogel auf sich aufmerksam. Seine 2. Klaviersonate wird 1926 mit dem Mendelssohn-Preis ausgezeichnet. 1927 wählt ihn Joseph Szigeti zu seinem Klavierbegleiter auf einer sechsmonatigen Welttournee, Carl Flesch für Studioaufnahmen, der Wagner-Tenor Lauritz Melchior für seine Liederabende, Max Reinhardt als Komponisten von Bühnenmusiken, Leo Blech schließlich bestimmt ihn zu seinem Assistenten an der Staatsoper Unter den Linden. Zehn Jahre, die den jungen Strasfogel prägen und in denen er das Musikleben mitprägt.
Dann, 1933, der Karriereabbruch. Aufgrund seiner jüdischen Wurzeln, zwingt ihn die NS-Diktatur außer Landes. Für Ignace Strasfogel beginnen die „Qualen des Exils” (S. 6) wie dies sein Sohn Ian Strasfogel, Opernregisseur, Produzent, Autor, gleich zu Beginn seiner Darstellung auf den Punkt bringt. Dass sein Vater in den Vereinigten Staaten als Pianist und Dirigent auftritt, dass er über viele Jahre als Korrepetitor und Kapellmeister an der Metropolitan Opera in New York wirkt, kann, so der Autor, nicht darüber hinwegtäuschen, dass in dieser entwurzelten Biographie ein tiefer Schmerz verborgen ist. Es ist das Verdienst dieses Lebensbildes, dass es diese Befindlichkeit nicht wegrationalisiert. Einmal mehr begegnen wir dem bekannten Umstand, dass die Überlebenden über das, was ihnen angetan wurde, jahrzehntelang den Mantel des Schweigens gehüllt, ja sogar ihre Familien kleiner dargestellt haben als sie gewesen sind. Wieviele Mitglieder der weitverzweigten Strasfogel-Familie in der Shoah ausgelöscht wurden erfährt Ian Strasfogel erst nach dem Tod seines Vaters 1994. Und doch atmet dieses Büchlein einen Geist von Versöhnung. Man erfährt, wie sehr Ignace Strasfogel die Rezeption seines kompositorischen Werkes seit den späten 1980-erJahren durch nachgeborene deutsche Künstler mit Dankbarkeit erfüllt hat: „Diese Wiederentdeckung verschaffte ihm am Ende seines Lebens tiefe Genugtuung. Zu guter Letzt war doch das Richtige geschehen. Künstlerischer Wert hatte den Naziterror überdauert.” (S. 9) Die berührende Studie schließt mit dem Hinweis auf die Enkeltochter Daniella Strasfogel. 2003 beginnt diese ein Violinstudium an der Berliner Universität der Künste, „die sich heute in demselben Gründerzeitbau an der Bundesallee befindet, in dem vor mehr als 80 Jahren ihr Großvater [...] studiert hatte. Damit schließt sich der Kreis der Strasfogel-Saga.” (S.80) Ein Finale, das mit der Figur des glücklichen Endes, das die zerstörten Anfänge kompensiert, vielleicht eine Spur zu harmonistisch ausgefallen ist. Auch der versöhnte Bruch macht die Bruchkanten ja nicht unsichtbar.
Für alle weiteren Fragen, die sich im Zusammenhang dieser Künstlerbiographie stellen, steht mit der Monographie von Kolja Lessing ab sofort eine Publikation zur Verfügung, die dem Komponisten Ignace Strasfogel erstmals umfassende Gerechtigkeit zuteilwerden lässt. Ein Autor, der für Letzteren rundweg als ein Glücksfall bezeichnet werden darf. Als konzertierender Geiger und Pianist, heute Leiter von Meisterklassen an Hochschulen, hatte Lessing den Vorteil, dem Pianisten und Komponisten Ignace Strasfogel auf Augenhöhe begegnen zu können seitdem er diesen 1988 im Kontext einer Beschäftigung mit der Kompositionsklasse Franz Schreker entdeckt hatte, ihm im August 1990 erstmals begegnet war, um fortan dessen Nähe zu suchen. Es beginnt mit Gesprächen, mit Interviews. Strasfogel seinerseits bedankt sich mit Widmungskompositionen wie dem Duet for Violin and Piano, das noch im gleichen Jahr 1991, am 26. August im Bürgerhaus Recklinghausen, von Kolja Lessing, Violine, und Rainer Klaas, Klavier, uraufgeführt werden wird. Eine Konkretion, die an dieser Stelle angezeigt ist, da es sich dabei tatsächlich um das „erste und einzige Porträtkonzert zu Lebzeiten” (S. 63) handelte. Wer das liest, versteht die Bedeutung der Aufgabe, begreift, wie erschreckend erfolgreich der Eliminationsversuch des NS gewesen ist.
Ins ausführlich kommentierte Werkverzeichnis, das neben den Werkanalysen das Zentrum dieser Arbeit bildet, sind die begeisterten Kommentare Strasfogels über seine ersten Interpreten aufgenommen. Sie belegen en detail und anschaulich, was Ian Strasfogel in seiner Biographie über die Dankbarkeit seines Vaters angesichts dieser späten Rezeption ausgeführt hatte. Von daher lässt sich Lessings eigenes Verständnis seiner Monographie als einem „Beitrag zur Exilmusikforschung” (S. 300) erweitern, insofern sie auch zu sehen ist im Kontext von Schuldvergangenheit, zu deren Anerkenntnis, zu deren tätiger Aufarbeitung die Tätergeneration unfähig respektive unwillens gewesen war. Nur eben, bloß symbolische Gesten abzuliefern, dies ist und war Lessings Sache freilich nicht. Er wollte mehr. Für ihn war klar, dass die Versöhnung zu diesem Zeitpunkt in den frühen 1990-er Jahren erst an ihrem Anfang stehen kann. So geht es, so geht er weiter. Der Elan hält an, reißt auch nicht ab mit dem Tod von Ignace Strasfogel im Jahr 1994. In der Folge ist es der ausführende Musiker Kolja Lessing, der den Musikforscher in sich mobilisiert, der das verstreute Material zusammenträgt, der Archive konsultiert und dem es schließlich, im Jahr 2020, gelingt, das verschollen geglaubte Widmungsautograph des 1946 für Andrés Segovia komponierten Gitarrentriptychons Prelude, Elegie und Rondo im fernen Linares/Andalusien ausfindig zu machen. Noch so ein Glücksfall. Die Klappendeckel-Mitteilung, wonach in diesem Buch eine jahrzehntelange Forschungsarbeit „kulminiert” sei, ist durch und durch zutreffend.
Die Verdienste dieser Komponisten-Monographie liegen auf der Hand. Die Darstellung ist umfassend, tief, klar in ihrer sprachlichen Form und in einem Maß kenntnisreich an Bezügen, das die Lektüre noch jeder scheinbar entlegenen Werkanalyse zu einer beglückenden Leseerfahrung macht. Als Autor gehört Kolja Lessing zu den selten gewordenen Exemplaren, die dem irrlichternden Zeitgeist die kalte Schulter zeigen. Seine klassische „Leben und Werk”-Darstellung umsegelt die Untiefen strukturalistischer Vernebelungen, die ja alle daran kranken, dass sie dem Subjekt abgeschworen haben, um darin den Absichten der Eliminatoren unbewusst willfährig zu sein.
Georg Beck
Düsseldorf, 14.03.2023