Bruno Monsaingeon: Ich denke in Tönen. Gespräche mit Nadia Boulanger / Aus dem Französischen übersetzt von Joachim Kalka. – Berlin: Berenberg, 2023. – 176 S.
ISBN 978-3-949203-50-3 : € 28,00 (geb.; auch als e-Book)
1981, zwei Jahre nach dem Tod der Musikerin, hat der Geiger, Filmregisseur und Schriftsteller Bruno Monsaingeon aus Rundfunkgesprächen und einem Film diese Texte zusammengestellt, in Dialogform gebracht und mit Beiträgen von Kollegen und Freunden ergänzt. „Die Gespräche mit Nadia Boulanger haben natürlich in der Form, wie sie hier vorgelegt werden, und in dieser Strukturierung nicht stattgefunden. Und doch steht in diesem Band nichts, das nicht von ihr wäre“ (S. 15).
Nadia Boulanger, in Paris aufgewachsen als Tochter des französischen Komponisten Ernest Boulanger und der aus Russland stammenden Sängerin Fürstin Raïssa Mychetskaja, die ältere Schwester der Komponistin Lili Boulanger, verzichtete nach ersten Erfolgen auf eine Laufbahn als Komponistin, wurde 1921 Lehrerin am Conservatoire Américain in Fontainebleau, feierte Triumphe als Dirigentin, war von 1946 bis zu ihrem Tod Professorin am Pariser Conservatoire und gilt als wichtigste Kompositionslehrerin des 20. Jahrhunderts.
„Ich bin eine, die ihr Handwerk versteht, Ratschläge geben konnte, die es den Leuten erlaubt haben, eine Alltagstechnik zu erwerben, gut zu hören, transkribieren zu können, repetieren zu können, etwas behalten zu können. Die Rolle der Lehrerin scheint mir als eine bescheidene“ (S. 86f.). Ihr Schüler Lennox Berkeley schrieb: „Tatsächlich waren es die Macht ihrer Persönlichkeit und das Beispiel ihres völlig konzentrierten Lebens, die eine so anregende Wirkung auf ihre Schüler hatten“ (S. 13).
Von dieser Persönlichkeit geben die Gespräche einen guten Eindruck: eine alte Dame, die zurückblickt auf ein mit Musik angefülltes Leben, die sich mit Wärme und Witz an ihre zahlreichen prominenten Schüler erinnert, die ihr eminentes Wissen gerne teilt, die mit eindrucksvollen Bildern über Interpretation zu sprechen weiß, die über den musikalischen Fortschritt philosophiert, die sich für die Entdeckung Alter Musik ebenso engagiert wie für unbekannte Kompositionen. „Ich wähle am liebsten Werke, die im Schatten liegen oder kaum bekannt sind“ (S. 92). Und bei vielen Erörterungen über Werke unterschiedlicher Gattung und Provenienz kommt sie immer wieder auf Johann Sebastian Bach und vorzugsweise auf das Wohltemperierte Klavier zu sprechen. Unter der Überschrift „Die Mentorin“ wird ihr die Frage gestellt: „Sind Sie nie schockiert gewesen vom Werk eines Schülers, von etwas grundsätzlich Neuem – grundsätzlich neu verglichen mit dem, was Sie an der Musik schätzen, die Sie kennen?“ Die Antwort: „Ich weiß nicht, was Sie mit ‚schockiert‘ sagen wollen. Man könnte sagen, dass man frappiert ist, aber ‚schockiert‘ beinhaltet eine Verweigerung, eine Zurückweisung. ‚Frappiert‘ meint ein Abwarten, eine Erwartung. Es macht einen großen Unterschied, ob man es mit einem Werk zu tun hat, das man noch nicht wirklich kennt, oder mit einem, bei dem man gelegentlich den Wert erkennt, sich aber insgeheim sagt: ‚Das ist eine Tendenz, der ich nie folgen werde.‘ Das ist der persönliche Geschmack. Erlaubt uns die Kultur nicht, unseren persönlichen Geschmack hinter uns zu lassen, um festzustellen, ob ein Gegenstand schön ist? Würde ich es kaufen, um es zu besitzen? Nein, aber ich kann sehen, dass es schön ist“ (S. 84).
Solche Sätze lassen nachempfinden, warum so zahlreiche hochbegabte Musiker und Komponisten, vor allem aus den USA und Europa, diese außergewöhnliche Musikerin aufgesucht haben, um bei ihr zu lernen, handwerkliches Können zu entwickeln, den eigenen musikalischen Ausdruck zu finden. Nadia Boulanger blieb mit vielen Schülern über Jahrzehnte verbunden, war in ihrer Pariser Wohnung der Mittelpunkt eines großen Kreises von MusikerInnen und Intellektuellen.
Das Buch gliedert sich in sechs locker gefügte Kapitel: Ouverture à la Française, Die Tugenden, Der Beruf, Präsenzen (darunter Gespräche über Dinu Lipatti, Igor Markevitch, ihre Schwester Lili Boulanger, Igor Strawinsky, die Prinzessin von Polignac), Gaben und Gründe (darunter Passagen über Ferruccio Busoni, Eugène Ysaÿe, Raoul Pugno, Francis Planté, Francis Poulenc) und Zeugnisse Dritter: Leonard Bernstein, Lennox Berkeley, Yehudi und Jeremy Menuhin, Murray Perahia, Saint-John Perse und Paul Valéry.
Die Übersetzung von Joachim Kalka ist flüssig und lesefreundlich. Bei dem Begriff „Begehren“ (Zwischenüberschrift im 2. Kapitel) hätte man gern das französische Original erfahren – dem folgenden Inhalt nach ist eher „Hingabe“ gemeint. Und wo S. 93 das Handwerk als Bedingung des schöpferischen Gestaltens thematisiert wird, darf es eigentlich nicht heißen: „Talent ohne Genie mag etwas Geringes sein, aber Genie ohne Talent ist gar nichts“ (S. 94). Ich nehme an, dass es im Original „talent“ geheißen hat. Dieser Begriff hat im Französischen auch die Bedeutung von (handwerklichem) Können – ist also eine Art „falscher Freund“.
Freia Hoffmann
Bremen, 10.03.2023