Ondřej Pivoda und Lubomír Spurný: Pavel Haas. A Catalogue of the Music and Writings. – Prag: Bärenreiter, 2022. – 235 S.: 4 s/w-Fotos, 11 Farb-Abb.
ISBN 978-80-86385-42-6 : € 33,50 (geb.)
Fast immer, wenn die Rede auf den tschechischen Komponisten Pavel Haas kommt, ist das Label der „Komponisten in Theresienstadt“ zur Hand. Neben Haas zählen Gideon Klein, Hans Krása, Victor Ullmann und weitere hierzu. Das Schicksal, in der Mitte des Lebens oder bereits in jungen Jahren in das 60 km nördlich von Prag gelegene Konzentrationslager Theresienstadt und dann 1944/45 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet zu werden, eint sie, musikalisch aber bilden sie keine Schule. Die einstige Garnisonsstadt Theresienstadt ließ Kaiser Joseph II. in den Jahren ab 1780 errichten; für 7.000 Soldaten war die Anlage einst konzipiert worden, im Ghetto dann, ab Ende 1941, waren dort bis zu 70.000 Menschen interniert.
Aufgewachsen ist Haas in Brünn (tschechisch: Brno), das politisch bis 1918 zur österreichisch-ungarischen Monarchie und regional zu Mähren gehörte. Im Elternhaus wurde tschechisch gesprochen, die Eltern schickten ihn aber auf eine deutsche Schule – tschechisch war die Umgangssprache, deutsch die Sprache des gehobenen Bürgertums. Max Brod sprach von der „Kultur aus drei Kulturen“, der tschechischen, der deutschen und der jüdischen. In den Jahren 1920 bis 1922 besuchte Haas die Meisterklasse von Leoš Janáček, er gilt als dessen namhaftester Schüler. Die ersten Werke, die Haas auch später noch gelten lassen wollte, entstanden nun, etwa das Scherzo triste op. 5 für großes Orchester. Eines seiner heute am meisten aufgeführten Werke ist das 1925 entstandene zweite Streichquartett mit dem Beinamen Aus den Affenbergen. Das Stück thematisiert einen Sommeraufenthalt des Komponisten im böhmisch-mährischen Gebirge, der markante Titel greift eine volkstümliche Bezeichnung für die Böhmische-Mährische Höhe auf. Kammermusik und Vokalmusik sind die zentralen Gattungen in Haas‘ Werk, doch sein wohl erfolgreichstes Werk wurde die Oper Der Scharlatan nach einer Volkssage. Die Vorlage über einen vagabundierenden Wunderheiler und Quacksalber fand Haas in einem Roman von Josef Winckler, doch weil es 1934 nicht mehr möglich war, dass ein jüdischer Komponist mit einem nichtjüdischen, deutschen Schriftsteller zusammenarbeitete, verwendete Haas den Roman nur als Vorlage, in die er tschechische Elemente aus Volksmärchen einarbeitete.
Durch die Vermittlung seines Bruders Hugo schrieb Pavel Haas einige Filmmusiken und bekundete mit seiner Radio-Ouvertüre für Orchester das Interesse am noch neuen Medium Rundfunk. Aus den Jahren der Internierung in Theresienstadt existieren Nachweise über aufgeführte Werke, doch nur drei dieser Werke konnten gerettet bzw. rekonstruiert werden – Haas hatte einen Koffer mit allen persönlichen Dokumenten mit nach Auschwitz genommen, wo er am 17. oder 18. Oktober 1944 in den Gaskammern ermordet wurde.
Ein halbes Jahrhundert blieb die Musik von Haas aus dem öffentlichen Bewusstsein weitgehend vergessen und verdrängt (Gideon Kleins Werke aus der Zeit vor Theresienstadt beispielsweise wurden erst 1990 in einem Koffer aufgefunden). Erst durch die CD-Reihe „Entartete Musik“ der Decca und die Aktivitäten des Vereins „Musica reanimata“, die Mitte bzw. Anfang der 1990er Jahre auf Initiative des Berliner Musikwissenschaftlers Albrecht Dümling ins Leben gerufen wurden, konnte Haas‘ Musik hierzulande neu entdeckt werden. Ein erster Höhepunkt war hier sicherlich die CD-Veröffentlichung der Oper Der Scharlatan. Parallel dazu wurden Haas‘ Kompositionen neu gedruckt oder in Erstdrucken publiziert, seit kurzem auch in Urtext-Ausgaben. Vor allem die Kammermusikwerke finden dadurch Eingang in das Konzertrepertoire zahlreicher Ensembles.
Der tschechische Musikwissenschaftler Lubomír Peduzzi, einer der wenigen Schüler von Pavel Haas, galt bis zu seinem Tode 2008 als der maßgebliche Haas-Forscher, seit 1949 legte er Publikationen vor und 1993 eine Monografie, die 1996 auch in deutscher Sprache erschien; im Anhang war ein zehnseitiges Werkverzeichnis abgedruckt. In den seither vergangenen 25 Jahren sind zahlreiche Forschungsergebnisse neu hinzugekommen, so dass die beiden Haas-Experten Lubomír Spurný und Ondřej Pivoda sich der Aufgabe stellten, ein neues, ausführliches Werkverzeichnis zu erarbeiten. Lubomír Spurný, Professor für Musikwissenschaft an der Uni Brünn ist Mitherausgeber einer Alois Hába-Monografie. Ondřej Pivoda, Kurator der Musikabteilung im Mährisches Landesmuseum Brünn, ist Herausgeber von Urtext-Ausgaben von Haas, zuletzt des zweiten Streichquartetts Aus den Affenbergen.
Die Herausgeber haben sich für einen systematischen Aufbau ihres Verzeichnisses entschieden: In 12 Abteilungen, von der Oper (I.) bis zu den verlorengegangenen Werken (XI.) und zusätzlich den Schriften von Pavel Haas (XII.), werden die entsprechenden Werke chronologisch eingegliedert. Da nur ganz wenige Werke nicht datiert sind, bot die Reihenfolge der Einträge keine Probleme, so dass die Werke mit einer zweistufigen Katalognummer versehen werden konnten, der römischen Gruppenziffer und der arabischen Ordnungszahl. Leider haben die Herausgeber kein Werkverzeichniskürzel angegeben, „PH“ hätte sich hier angeboten. Die Ansetzung der Werktitel könnte – dem Usus folgend, bei nicht vorhandenem Kürzel der Katalognummer den Namen vorzusetzen – in etwa diesem Beispiel folgen: Bläserquintett op. 10 (Haas VI/7). Alle Werktitel sind dreisprachig angegeben, tschechisch, englisch (das Buch ist in englischer Sprache verfasst) sowie in Deutsch, Haas‘ Zweitsprache. Unter jeder Katalognummer sind die für derartige Publikationen standardmäßigen Informationen zu finden, von der Opusnummer (falls vorhanden) über Werkdaten, Uraufführungsdaten, Autographen und Erstdrucken bis zu Literaturangaben und einer Diskografie. Als überaus hilfreich erweisen sich die sehr unterschiedlich ausführlichen Texte zur Entstehungsgeschichte. Die diskografischen Angaben, selbst in umfangreichen Werkverzeichnissen sehr selten anzutreffen, sind ein Indikator für die Präsenz der jeweiligen Werke im heutigen Musikleben (aus Platzgründen wurden sie leider etwas unübersichtlich im Fließtext gesetzt). Die Aufnahmetätigkeit setzt, wie den Einträgen zu entnehmen ist, in größerem Stil Ende der 1980er Jahre ein, bekannte Werke sind mit bis zu 15 Einspielungen vertreten (mit aufgenommen wurden auch die Produktionen des tschechischen Rundfunks).
Unerlässlich in systematischen, aber auch in chronologischen Werkverzeichnissen sind Konkordanzen und Indices. Die vorliegende Arbeit enthält im Anhang einen systematischen und einen chronologischen Index, Register der englischen und der originalsprachigen Titel, der Textincipits sowie ein Register der Personen, Institutionen und Orte, ergänzt durch ein Curriculum vitae und eine Bibliografie.
Der Wert eines umfangreicheren Werkverzeichnisses ermisst sich nicht allein in der Vollzähligkeit der Werke, sondern in der Verlässlichkeit der Werkdaten und der Vereinheitlichung der Ansetzung der Werktitel. Das leistet dieses angesichts von Haas‘ eher schmalem Œuvre durchaus umfangreiche Buch auf vorzügliche Weise. Kleinere Fehler sind selbst bei sorgfältigem Lektorat kaum zu vermeiden, die weniger offenkundigen dürften erst bei näherer Beschäftigung mit dem Buch aufgedeckt werden. Ein flüchtiger Blick auf den chronologischen Index beispielsweise (S. 217-19) zeigt, dass zwei Opusnummern fehlen, op. 4 und 13 und zwei weitere (op. 9 und 10) in die Titelspalte gerutscht sind. In den Haupteinträgen sind sie indes alle korrekt eingearbeitet.
Im Verlauf der Erarbeitung eines Werkverzeichnisses tauchen zahlreiche Probleme, etwa der Vereinheitlichung, der Bewertung von Quellen und vielem mehr auf, die nur durch ein eigens erstelltes Regelwerk in den Griff zu bekommen sind. Über generelle Entscheidungen oder Fragestellungen Rechenschaft abzulegen, ist die Aufgabe eines Vorwortes. Die beiden Bearbeiter des Verzeichnisses, Spurný und Pivoda, halten sich hier freilich sehr zurück. In ihrem sehr knapp gehaltenen Vorwort skizzieren sie die Entstehungsgeschichte des Bandes – die Anregung entstand anlässlich einer Ausstellung zum 70. Geburtstag des Komponisten – und umreißen die Quellenlage.
Der „Katalog der Musik und Schriften“ von Pavel Haas kommt zum richtigen Zeitpunkt auf den Markt, jetzt, da Haas‘ Musik zunehmend häufiger in den Konzertsälen anzutreffen ist.
Die sorgfältige, den aktuellen Forschungsstand berücksichtigende Arbeit eignet sich sowohl für die praktische Beschäftigung mit der Musik von Pavel Haas und stellt eine unentbehrliche Grundlage gegenwärtiger und zukünftiger Forschung dar.
Rüdiger Albrecht
Berlin, 08.09.2022