Wolfgang Dörner: Josef Strauss. Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis. – Wien [u.a.]: Böhlau, 2021. – 493 S.: zahlr. Notenbsp.
ISBN 978-3-205-21161-7 : € 75,00 (geb.)
Nach langem Zögern hat sich die akademische Musikologie auch den verschiedensten Spielarten der Popularkulturen zugewandt. Angewiesen ist sie dabei auf Basisarbeiten, namentlich monographisch selbstständige Werkverzeichnisse, die ihr den Pfad zu Primärquellen, Editionen und einschlägigem Schrifttum ebnen. Vereinzelte Meilensteine, die ein Œuvre der leichteren Muse mit gleicher Akribie und philologischer Akkuratesse dokumentieren wie den Werkkatalog eines großen E-Musikalischen, fehlen keineswegs. Für die Strauss-Dynastie und ihr Umfeld stehen das mehrteilige Strauss-Elementar-Verzeichnis für Johann Strauss Sohn und die 2012 bei Böhlau erschienene Großtat Joseph Lanner. Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis, Autor: Wolfgang Dörner, Jahrgang 1959, als europaweit tätiger Dirigent Experte vor allem für Wienerisches, Dozent an der Kunstuniversität Graz, promovierter Musikologe mit Herausgeberarbeit u.a. für das Wiener Neujahrskonzert.
In derselben editorischen Konstellation kam nach Lanner nun ein kongeniales, fortan unverzichtbares Pendant hinzu, das zugleich einen 150. Todestag würdigte – dasjenige zum mittleren Sohn von Strauss Vater: Josef Strauss (1827–1870). Gewiss: Brauchbare Systematiken erarbeiteten zuvor schon die von Dörner anerkannten Spezialisten Alexander Weinmann 1967 (Druckausgaben chronologisch), Franz Mailer 2002 (kommentiert, doch laut Dörner ohne detaillierte Quellenangaben), ferner Max Schönherr 1982. Um einige Werkaspekte und Kriterien vertieft und bereichert Dörner die Werksichtung indes erheblich.
Einen substantiellen Gewinn markiert allein die Einleitung: Zwar verspricht der rückseitige Covertext konventionell eine „umfangreiche Monographie über den Komponisten und Dirigenten“. Doch an Stelle eines noch so differenziert argumentierenden biographischen Abrisses setzt Dörner gattungsgeschichtlich an. Ausgehend vom Kontext der Gebrauchsmusik im 19. Jahrhundert, integriert er den Lebenslauf eher punktuell im Diskurs der kompositorischen, aufführungspraktischen, stilistischen und editionstechnischen Entwicklung innerhalb Josefs kurzer, aber schaffensreicher Vita. Initialzündung sind die Vorläufer Lanner und Strauss Vater, die mit ihren Formationen den für das 19. Jahrhundert gültigen Kanon der Wiener Tanzmusik kreierten, zugleich auch Orchesterkonzerte bereits vor der Gründung professioneller Klangkörper anboten. Entsprechend erreichten Tanzkapellen die Stärke mittelgroßer Orchester und forcierten auch qualitativ eine Professionalisierung der Spielkultur, die – vor Etablierung städtischer Ensembles – neben dem Orchester der Hofoper bestehen konnte.
In Konkurrenz zum Vater erspielte sich schließlich Johann Strauss Sohn den Spitzenplatz auf dem Olymp des Wiener Walzers. Überlastung und Krankheitsphasen forderten eine Vertretungslösung: Ausgerechnet Bruder Josef, Absolvent des Wiener Polytechnikums und dem familiären Musikbetrieb eher abgeneigt, sprang ab 1853 in die Bresche, übernahm infolge seiner Wienbindung nur wenige Tourneen (nach Warschau mit letaler Folge), reüssierte dafür relativ kurz, aber nachdrücklich als Dirigent und Komponist, „genoss“, so Dörner, „still seine Erfolge, suchte nie das Rampenlicht, blieb ein unermüdlicher Arbeiter“. (S. 13) Wie Bruder Johann konfrontierte Josef das Publikum mit dem damals Avancierten, setzte wiederholt Teile aus Wagner-Opern aufs Programm. Reine Bälle, gemischte Veranstaltungen und Konzerte standen im Terminplan. Politisch schien Kaiser Franz Josephs Monarchie stabil. Den verheerenden Börsenkrach 1873 erlebte Josef nicht mehr.
„Von der funktionalen Tanzmusik zur autonomen Komposition“ (S. 17) verlief das glückliche Geschick der Strauss-Produktion. Dezidiert skizziert Dörner stilistische und satztechnische Einflüsse der Symphonik Beethovens (!), akzentuiert zentral die Formentwicklung des Walzers, streift präzise Ländler, Polka, Marsch, Quadrille und Potpourri, systematisiert stilkundlich und -kundig die musikalischen Parameter Melodie, Begleitung, Harmonie, Formanlage, besonders detailliert nicht zuletzt den Einsatz der Orchesterinstrumente. Einem umfänglichen Quellenbericht (Spezifikum: weitgehender Verlust der Autographe, deren Großteil der jüngere Bruder Eduard mit dem Notenbestand der Strauss-Kapelle verbrennen ließ) folgt die Starthilfe zur Nutzung des Werkverzeichnisses selbst.
Dort bringen es gedruckte Werke mit Opuszahl von Seite 43 bis 429 auf nicht weniger als 283 Titel. Auch solche ohne Opuszahl und ungedruckte (hier auch rein handschriftlich erhaltene und nur in Antiquariatskatalogen erwähnte) sowie eine Auswahl aus Bearbeitungen und Aufführungen von Fremdwerken bleiben nicht außen vor. Ein alphabetisches Werkregister, ein Verzeichnis ausgewählter Auftrittsorte, sogar Verlagskommissionäre, dann Literatur- und Abkürzungsverzeichnis komplettieren.
Last not least steckt der Schatz im Detail, d.h. in den Werkeinträgen. Selbst Titel, Gattung, Opuszahl sind in ihrer Formulierung philologisch begründet. Am Herzen liegt Dörner die genaue Besetzungsangabe, nach Möglichkeit anhand der Stimmendrucke. Ein Sonderlob verdienen die Incipits: nicht nur wegen der Instrumentations- und Taktangaben, vielmehr sind sämtliche Formteile eines Stücks mit ihren Initialen vertreten – bei Polka und Marsch also A-Teil und Trio, beim Walzer (de facto Walzerkette) Introduction, alle fünf Binnenteile mit ihren jeweils zwei (!) Themen, Coda. Gold wert für den Forscher: Entstehung, erste Aufführungen (inkl. Veranstaltungsmottos), Titelbezug und Widmungsträger, Autographe, Abschriften, Drucke, Erstanzeige, weitere Verlagsanzeigen, exakte Verweise auf Thematisierung in Fachliteratur und Presse. Massiv der Verwirklichung nahe rückt Dörners Ideal: Josef Strauss „jenen hohen Rang in der Musikgeschichte zuzuweisen, der ihm unbestreitbar gebührt.“ (S. 41)
Andreas Vollberg
Köln, 30.12.2021