Gegenwärtig. Die Donaueschinger Musiktage. 100 Jahre Neue Musik / Hrsg. von Björn Gottstein und Michael Rebhahn. – Leipzig: Henschel, 2021. – 216 S.: 163 s/w-Fotos.
ISBN 978-3-89487-828-3 : € 28,00 (Klappenbrosch.)
Dass sich die Geburt eines Festivals für zeitgenössische Musik ausgerechnet in einem beschaulichen Städtchen im südlichen Schwarzwald zutrug, just dort, wo man, geologisch nicht ganz korrekt, die Donauquelle als den eigentlichen Ursprung des Flusslaufes für sich reklamierte, wurde schon in den Gründungstagen der damals „Donaueschinger Kammermusikaufführungen zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst“ genannten Festtage als gutes Omen verstanden: Immerhin entwickelt sich das bescheidene Rinnsal von der Donauquelle aus zu Europas zweitmächtigstem und -längstem Fluss und führt durch zehn Länder bis ins Schwarze Meer. Seinerzeit dachte man in bescheideneren Dimensionen, war sich indes der musikalischen Tradition des Standortes wohl bewusst. Erschienen ist nun ein Buch, dessen adjektivischer Titel statt von der im Moment überholten „Gegenwart“ sich auf die stete Präsenz einer „Gegenwärtigkeit“ beruft – die in diesem Falle nun schon ganze einhundert Jahre beschworen wird. Die Behauptung einer „Neuen Musik“ wird so in den Rang einer Epoche gehoben, die ihr Selbstverständnis aus Tabubruch und Paradigmenwechsel bei gleichzeitig stattfindenden Alterungsprozessen bezieht. Wie das dereinst auch rückblickend eingeordnet werden mag – sicher ist: die Donaueschinger Musiktage wurden zu Beginn der wilden 1920er Jahre ins Leben gerufen, als das Neue noch einem Kampfbegriff glich. Unmittelbar auf diese Zeit, die beginnende Bauhaus-Ästhetik, verweist auch die Typografie des Buchtitels.
Das Buch ist keine Dokumentation der Musiktage wie Josef Häuslers 1996 zum 75jährigen Jubiläum erschienenes Buch Spiegel der neuen Musik: Donaueschingen (die Programme aller Konzerte seit Beginn und einige neueren Programmhefte können aktuell über das Programmarchiv seit 1921 auf der Homepage des SWR nachgelesen werden) – es ist ein Lesebuch, das mehr zum Schmökern als zum Nachschlagen einlädt. Herausgeber sind die beiden Redakteure für Neue Musik beim Südwestrundfunk, Michael Rebhahn im Funkhaus Baden-Baden und Björn Gottstein am Standort Stuttgart; letzterem oblag zugleich die Verantwortung der Musiktage in den Jahren 2015 bis 2021. Seine Nachfolge wird ab dem kommenden Jahr Lydia Rilling antreten.
Die Autorinnen und Autoren der Hauptbeiträge der Festschrift kommen großenteils aus dem redaktionellen Umfeld des SWR. Fünf Aufsätze widmen sich der Geschichte des Festivals. Insbesondere die Gründerjahre und die Zeit des Neubeginns um 1950, beides vom Pioniergeist ihrer Macher geprägt, werden ausführlich dargestellt. Die Idee zu einem Kammermusikfest, das junge unbekannte Talente fördern sollte, kam vom Direktor des Mannheimer Konservatoriums, Willy Rehberg. Doch Spiritus Rector der ersten Jahrgänge bis 1926 war der umtriebige Dirigent Heinrich Burkard. Die finanzielle und organisatorische Abwicklung teilte sich die Donaueschinger Gesellschaft der Musikfreunde mit dem Fürstenhaus zu Fürstenberg. Anfangs bestimmten der Pianist Eduard Erdmann und der Komponist Joseph Haas die programmatischen Leitlinien, doch schon 1924 übernahm Paul Hindemith das Ruder. Sein Anliegen war es, das Festival durch gezielte Vergabe von Kompositionsaufträgen attraktiver zu gestalten, was bereits im selben Jahr mit der öffentlichen Uraufführung der Serenade op. 24 von Arnold Schönberg zu einem vielbeachteten Höhepunkt führte. Die Weitsicht der ersten Programmmacher ist beachtenswert, denn neben einigen heute (zwangsläufig) vergessenen Namen finden sich doch erstaunlich viele der seinerzeit maßgeblichen und noch heute die damalige Zeit repräsentierenden Komponistennamen. Trotz aller Erfolge sah das Fürstenhaus sich alsbald nicht mehr in der Lage, das Musikfest weiterhin finanziell zu unterstützen, worauf für die Jahre 1927 bis 1929 Baden-Baden als Ausweichquartier diente. Vor dem Niedergang, bedingt durch Weltwirtschaftskrise und Inflation, erlebten die Kammermusiktage noch einen Aufschwung: Das Experiment und die Medienkomposition hielten Einzug in die Programme: Musik für mechanische Musikinstrumente, Musik für den Film, Musik für den Rundfunk (Der Lindberghflug von Bertolt Brecht, Paul Hindemith und Kurt Weill), Neues Musiktheater (Weills Mahagonny, Hindemiths Hin und zurück) wurden vorgestellt. Doch nach einem einmaligen Intermezzo 1930 in Berlin war die Geschichte der Donaueschinger Kammermusiktage erst einmal beendet. Zwischen 1934 und 1939 wurden weitere fünf Jahrgänge durchgeführt – mit der ursprünglichen Idee, der musikalischen Moderne ein Forum zu bieten, hatte dies aber nichts mehr zu tun. Statt Aufbruch gab es nun Rückschritt, der Schwerpunkt lag auf Sing- und Spielmusik, neuer Gebrauchsmusik, und im Schatten des Hakenkreuzes wurden NS-Kantaten aufgeführt. Hugo Herrmann, der in den braunen Jahren die künstlerische Leitung innehatte, trat sogar, wie Friedemann Kawohl berichtet, in die Partei ein, um seiner Meinung nach zu retten, was längst nicht mehr zu retten war. Der Neubeginn nach dem Krieg erwies sich als mühsam, Hugo Herrmanns Versuch, an die frühen 1920er Jahre anzuknüpfen, war zum Scheitern verurteilt. Durch einen glücklichen Zufall kam 1950 der erst wenige Jahre zuvor gegründete Südwestfunk ins Spiel und mit ihm die charismatische wie zwiespältige Figur Heinrich Strobels. Ohne seine Weichenstellungen wäre das nun Donaueschinger Tage für zeitgenössische Tonkunst genannte Festival sicher längst Geschichte. Mit einem Eklat platzierte Strobel den jungen Pierre Boulez in den Jahrgang 1951, dessen in mancher Hinsicht utopische Entwurf der Polyphonie X, vom Komponisten sogleich zurückgezogen, zu einer der Inkunabeln der Festivalgeschichte avancierte. Pünktlich zum 70. Geburtstag dieser Aufführung wurde das Werk im aktuellen Jahrgang wiederholt – seine auratische Distanz hat es, wie man sich hörend versichern konnte, in keiner Weise verraten. Wie jene Persönlichkeiten – nach Strobel waren dies Otto Tomek, Josef Häusler, Armin Köhler und Björn Gottstein –, die musikalische Ausrichtung des Festivals auf je eigene Weise bestimmten, davon berichten anschaulich die Autoren Bernd Künzig, Dirk Wieschollek und Lydia Jeschke. Besonders in den Kapiteln über die Jahre von 1950-1970 und 1970-1990 zeigen die Autoren auf, wie sich gesellschaftlicher Wandel nicht nur in den Programmen, sondern in der Musik selbst unmittelbar – zeitweise überaus konkret – widerspiegelte. Bedeutende und berührende Werke entstanden, die selbst dann noch, wenn sie den Impetus des Zeigens längst abgelegt hatten, ihren Stachel im Fleisch des Wohlklangs nicht nur als historisches Relikt, als Abbild, bewahrten. Wenn etwa 1952 A-Cappella-Musik des 16. Jahrhunderts zur Aufführung gelangte, dann unter anderen Vorzeichen als 1938: Wurde sie seinerzeit als frühes Exempel einer Spielmusik (Minnesang und Spielmannskunst) gelesen, so war sie nun ein Bekenntnis zur neuen Musik; etliche der jungen Komponisten beriefen sich auf die polyphone Kunst der Niederländer.
Durch die Bindung an den Rundfunk wandelte sich das Musikfest auch äußerlich: Stand anfangs die Kammermusik im Zentrum der Konzerte, ist es nun – bis heute – das Orchester, das heutige SWR Sinfonieorchester Baden-Baden. An der Institution Orchester arbeiteten sich die Komponisten ab, es blieb gleichermaßen Referenz wie Hürde. Dass dies auch gegenläufige Tendenzen begünstigte, zeigt Dirk Wieschollek auf: Etwa gleichzeitig zu der Dekonstruktion des Orchesterapparats in Helmut Lachenmanns Schwankungen am Rand entdeckten die damals ganz Jungen das Orchester als ungebrochenes, unmittelbares Vehikel für das Ausdruckshafte, Ungebändigte. Einer ihrer Exponenten, Wolfgang Rihm, verdankt den frühen Donaueschinger Skandalen einen Gutteil seiner Karriere. In den 1980er Jahren stehen sich wieder andere Tendenzen unversöhnlich gegenüber: Musique engagée in Klaus Hubers großformatigem Oratorium Verachtet – Geknechtet – Vergessen – Verraten stehen Expeditionen in die Innenwelt des Klangs in Luigi Nonos späten Kompositionen mit Live-Elektronik gegenüber (dem dann prompt der Verrat an seiner früheren Haltung vorgeworfen wurde). Lydia Jeschke, Autorin für die drei letzten Dekaden seit 1990, hat es deutlich schwerer, vergleichbar markante Wegmarken zu benennen. Vielleicht liegt es an der fehlenden historischen Distanz oder doch an der so oft beschworenen neuen Unübersichtlichkeit? Armin Köhler jedenfalls setzte seit Beginn seiner Amtszeit vermehrt auf Klanginstallationen und Akustische Spielformen. Themen, die in diesen Jahren vermehrt zur Sprache kamen, werden in den vier weiteren Hauptbeiträgen thematisiert. Stefan Fricke schreibt über Klanginstallation und Klangkunst versus Tonkunst und Nina Noeske über die überaus zähe allmähliche Anerkennung und Einbeziehung von Komponistinnen in die Programme der Musiktage. Der Jazz, als vermeintlich exterritoriale Kunstform, hat es da deutlich leichter, bereits 1954 wird mit Rolf Liebermanns Concerto for Jazzband and Orchestra der Versuch einer Synthese zweier musikalischer Welten gestartet, auf die 1967 eine erste SWF Jazzsession folgt. Von Kritikern wurden diese Konzerte meist als Alibiveranstaltung wahrgenommen, wie Julia Neupert schreibt; der Jazz teilte damit dasselbe Schicksal wie das, was einst als „Außereuropäische Musik“ oder gar als „Weltmusik“ subsumiert wurde und was von Elisa Erkelenz unter dem Stichwort „dekoloniale Fragen“ diskutiert wird. Die Autorin betont, dass die Musik anderer Kulturen bis heute an dem Horizont des Eigenen gegenüber dem Fremden definiert wird, womit die Autorin den Gegenfluss, der sich in dem Begriff der Interkulturalität fassen lässt, vielleicht doch ein wenig unterbelichtet. Doch ist dies sicher einer der Gründe, weshalb Musik anderer Kulturen, eine zumeist urheberfreie Kunst, im Rahmen der autorgebundenen westlichen Kultur nicht ins Hauptprogramm genommen wurde, sondern in die Jazzsession. Die Geschichte der Donaueschinger Musiktage ist somit ein langer und steter Akkulturationsprozess.
Die Hauptbeiträge des Buches sind durchsetzt mit 14 persönlichen Erinnerungen von Komponistinnen und Komponisten, Kritikern, Rundfunkleuten und Festivalbesuchern. Es sind ganz besonders die Inneneinsichten aus Sicht der Komponierenden, zwischen Erfolg und Scheitern, zwischen Staunen und Hoffen, die einen authentischen Einblick in das Phänomen „Donaueschingen“ ermöglichen. Noch mehr Authentizität indes verschaffen dem Buch die mehr als 160 teils doppelseitigen Fotografien, die, zumal die Anordnung sich nach den Texten richtet, eine eigene Erzählebene bilden: Geschichte in Bildern. Besonders die auch dem Kenner großenteils unbekannten Archivschätze machen dieses Buch zu einer Fundgrube, die zum Stöbern einlädt (um nur ein Beispiel zu nennen: das 1925 vor dem Konzertsaal wartende Publikum, S. 20/21). Rund ein Viertel der Fotos entstammt dem Fundus des SWR, ein weiteres Viertel haben Stadt- und Landesarchive beigetragen, der Rest wurde aus Privatarchiven gehoben. Die raue Oberfläche des Kartons der Buchseiten – was dem Buch eine hohe Wertigkeit verleiht – sorgt wegen der damit verbundenen kaum realisierbaren Darstellung tiefer Schwarztöne für eine geringfügige Kontrastarmut der Abbildungen. Dass alle Bilder ausschließlich in Schwarzweiß gedruckt wurden, hat sicher nicht nur mit Herstellungskosten zu tun – ihr dokumentarischer Charakter wird auf diese Weise eindrucksvoll hervorgehoben.
Das Buch bietet nicht unbedingt eine grundlegend neue Sicht auf die Geschichte der Donaueschinger Musiktage, doch in der gelungenen Mischung aus Wort und Bild öffnet sich dem Leser ein lebendiges Panorama eines kulturellen Phänomens, das – so bleibt zu hoffen – für weitere einhundert Jahre die Lust auf das Neue und Unbekannte weckt.
Rüdiger Albrecht
Berlin, 15.12.2021