Danuta Gwizdalanka: Der Passagier. Der Komponist Mieczyslaw Weinberg im Mahlstrom des zwanzigsten Jahrhunderts. / Aus dem Poln. übers. von Bernd Karwen – Wiesbaden: Harrasowitz, 2020. – 114 S.: Abb. (Polnische Profile ; 9)
ISBN 978-3-447-11409-7 : € 18,00 (kt.; auch als eBook)
Musikalische Aktivitäten, die in verschiedenen Ländern, auch in Deutschland, zum 100. Geburtstag des polnisch-jüdisch-sowjetischen Komponisten Mieszysław Weinberg (1919-1996) im vergangenen Jahr stattfanden, ermöglichten es mehr als je zuvor, sich mit der Musik dieses außergewöhnlichen Künstlers wenn nicht vertraut (dazu ist sein Werk zu umfangreich und wird immer noch zu wenig gespielt) so doch wenigstens etwas bekannt zu machen. Nach der ersten deutschsprachigen Monografie von Verena Mogl aus dem Jahr 2017, in der das ganze musikalische Universum dieses Komponisten aufgefächert und ein detailliertes Werkverzeichnis präsentiert wurde, liegt nun eine kompakte Einführung vorwiegend in Weinbergs Leben und etwas geringfügiger auch in sein Werk aus der Feder einer polnischen Musikwissenschaftlerin in deutscher Sprache vor. Sie sollte im Erscheinungsjahr der Originalausgabe 2013 dazu dienen, Weinberg einem breiteren polnischen Publikum in seinem Geburtsland vorzustellen. Für die nun vorliegende deutsche Ausgabe hat die Autorin ihr Buch aktualisiert und stützte sich dabei in manchen Punkten auch auf die Forschungen von Mogl.
Während des Krieges und darüber hinaus schwebte Weinberg lange in Lebensgefahr. Obwohl er seit seinem 20. Lebensjahr unfreiwillig und als ein Flüchtling in der Sowjetunion lebte und ihr Staatsbürger wurde, ist der Charakter und das Idiom seiner Musik doch stark von seiner Jugend in der polnischen Hauptstadt geprägt, speziell von seinen Erfahrungen im jüdischen Viertel Nalewki im Norden Warschaus, von dem auch der jiddische Dichter Isaac Bashevis Singer erzählte und das nicht zu verwechseln ist mit dem von den Nazis errichteten Warschauer Ghetto. Dieser ersten Periode mit ihrem intensiv musikalisch geprägten Milieu (der Vater war ein ärmlicher Berufsmusiker in jüdischen Theatern des Viertels), in das Weinberg seit 1918 hineinwuchs, ist dann auch das erste Kapitel dieses chronologisch vorgehenden Buches gewidmet; erst das abschließende 4. Kapitel widmet sich ausschließlich der von Weinberg komponierten Musik.
Was Gwizdalanka, gestützt auf Dokumente und private Berichte, erzählt, ist die tragische Existenz eines aus innerem Zwang heraus unermüdlich schöpferischen Musikers, der zeitlebens um seine Präsenz und Anerkennung im öffentlichen Musikleben zu kämpfen hatte und dessen Leid durch ein hilfreiches familiäres Leben einigermaßen erträglich gemacht wurde. Gwizdalankas Darstellung sind folgende Akzente und Schlussfolgerungen zu entnehmen:
Schon während der vierjährigen Grundschul-Zeit begann der junge Mieczyslaw bei der musikalischen Unterhaltung in Theatern, Kinos und Restaurants sowie auch in der Synagoge auszuhelfen und bezog als 11-Jähriger als Klavierschüler das Warschauer Konservatorium, wo er zum ersten Mal mit seriöser Tonkunst in Berührung kam. Trotz großer Erfolge während des Studiums, bei Wettbewerben und repräsentativen Konzerten, in denen auch seine ersten Kompositionen uraufgeführt wurden, konnte er das Warschauer Konservatorium aus zwei Gründen nur ohne Examen verlassen: ihm fehlte das Abitur, und alle Männer Warschaus wurden aufgefordert, die Stadt kurz vor dem Einmarsch der deutschen Truppen zu verlassen. Zu Fuß schlug sich Weinberg ohne sein Familie bis zur Roten Armee durch und konnte an der zwischen den Polen okkupierenden deutschen und sowjetischen Truppen vereinbarten Demarkationslinie, an der Tausende ihr Leben ließen, eine günstige Stelle und einen günstigen Zeitpunkt erwischen, wo er in das sowjetisch besetzte Polen einwandern konnte, um dann in der Hauptstadt der weißrussischen Sowjetrepublik, Minsk, sein Studium fortzusetzen.
Nach dem Vorrücken der deutschen Truppen ins Innere der Sowjetunion ereilte Weinberg das gleiche Schicksal wie in Warschau: wieder begab er sich nur mit seinen Manuskripten ausgestattet auf die Flucht, diesmal in Richtung Taschkent, wo er weiter studierte und in einem Freundeskreis polnischer und russischer Emigranten (das Leningrader Konservatorium musste nach Taschkent evakuiert werden) produktiv sein konnte, und es ihm auch gelang, einige seiner zahlreichen Werke aufführen zu lassen. Nur nicht seine erste Sinfonie von 1942; sie konnte erst ein Vierteljahrhundert später uraufgeführt werden, gelangte aber über Freunde als Manuskript in die Hände von Schostakowitsch, der sich daraufhin für eine Übersiedlung Weinbergs nach Moskau einsetzte, wo ihn bessere Arbeits- und Aufführungsmöglichkeiten erwarten sollten. Das scheiterte aber an der von Stalin und seinen Kulturkommissaren erlassenen Doktrin eines „sozialistischen Realismus“, welche erzwang, dass sich alle sowjetischen Musiker optimistisch der Verherrlichung der antifaschistischen Heldentaten der russischen Arbeiterklasse und der Roten Armee zu widmen hatten. Weinberg tat auch dies, komponierte aber den entscheidenden Rest, der sein wirkliches Lebensgefühl authentisch wiedergab, für die Schublade. Auch nach Beendigung des Krieges ließen die Forderungen von Stalins Kulturbürokraten Schdanow nach einer affirmativen Kompositionsweise und romantisch-pathetischen Sujets in traditioneller Formgebung nicht nach und brachten Weinberg in Konflikt mit diesen Anforderungen. Seine Werke konnten ihnen trotz etlicher Anpassungsleistungen nicht entsprechen, sie wurden entweder nicht aufgeführt oder als negative Beispiele öffentlich gebrandmarkt.
Was den grassierenden Antisemitismus betrifft, so kam Weinberg durch seine Flucht aus Polen in die Sowjetunion quasi vom Regen in die Traufe, denn es gab in der frühen 1950er Jahren in der Sowjetunion durch Stalins Paranoia ausgelöste antijüdische Kampagnen, denen viele Ärzte und auch Künstler zum Opfer fielen. Einer von ihnen war Weinberg, der nur durch Interventionen anerkannter oder geduldeter, nichtjüdischer Künstler wie Schostakowitsch aus der Todeszelle gerettet werden konnte. Das sogenannte Tauwetter der sechziger Jahre verschaffte Weinberg eine kurze Zeitspanne, in der er sich in das Konzertleben einbringen konnte und Chancen hatte, einige seiner bedeutenden Werke aus der Schublade an die musikalische Öffentlichkeit zu bringen. Viele Dirigenten, Ensembles und Solisten setzten sich für seine Musik ein und führten sie auf. Traurig ist das Phänomen, dass er in seinem Alter wieder vereinsamte, dass gerade zu einem Zeitpunkt, als sich das Musikleben in der Sowjetunion im Zeichen von Perestroika und Glasnost liberalisierte, sich die Orchester, befreundeten Dirigenten und Solisten von ihm abwandten, sogar die ihnen gewidmete Werke nicht mehr aufführten. Er erlitt damit ein Schicksal, das dem der unterdrückten Musiker aus der Emigration während der NS-Herrschaft in Europa und aus der SED-Diktatur in der DDR ähnlich ist: auch und gerade nach errungener Freiheit waren sie wiederum für die Öffentlichkeit nicht interessant genug, weil jetzt andere Normen oder Moden galten, denn nun waren plötzlich bestimmte Stile – und auch der von Weinberg ‑ nicht avantgardistisch genug, um noch gehört zu werden.
Das letzte Kapitel bringt eine kompakte Zusammenfassung des kompositorischen Werkes unter den wechselnden Bedingungen von Anpassung und Widerstand gegen äußere Einflüsse und Zwänge. Hier gibt es eher nützliche, teilweise detaillierte Hinweise als Analysen zu nennende Beschreibungen der von Weinberg bedienten klassischen Gattungen wie Streichquartett und Sinfonie, Liedproduktionen nach Versen des polnischen Dichters Julian Tuwim und der in Russland heute noch ungehörten Oper Die Passagierin über Schicksale aus den nationalsozialistischen Vernichtungslagern (Aufführungen in Bregenz und Karlsruhe in den 2010er Jahren). Abbildungen öffentlicher und privater Dokumente, ein „Katalog der wichtigsten Werke“ und ein Personenregister, das verdeutlicht, wie groß die Bezüge Weinbergs zu seinen Zeitgenossen waren, ergänzen die Biografie mit instruktiven Beigaben.
Peter Sühring
Bornheim 26.11.2020