Hans-Peter Jahn: Otto Tomek. Der Rundfunk und die Neue Musik. – Hofheim: Wolke, 2018. – 400 S.: s/w-Abb.
ISBN 978-3-95593-088-2 : € 39,00 (geb.)
Der Name Otto Tomek (1928-2013) ist für Hörer, die sich mit Neuer Musik der 1960er Jahre beschäftigen, ein in gewisser Weise sagenumwobener Name. Wenig Konkretes weiß man über Tomek, doch wenn Karlheinz Stockhausen ihn in einer Passage aus seiner Tonbandkomposition Hymnen als moralische Autorität beschwört, kommt dies nicht von ungefähr. In der zweiten Region des Werkes wagt es Stockhausen, immerhin zur Zeit der beginnenden Studentenrevolte, Hymnen aus sehr unterschiedlichen historischen Kontexten miteinander zu verschränken. Nach der dritten Strophe der bundesrepublikanischen Nationalhymne wird im Hintergrund das Horst-Wessel-Lied deutlich hörbar, und hier lässt Stockhausen Otto Tomek als Kunstrichter auftreten, der ihm diese Provokation quasi sanktioniert. In einer Tonbandzuspielung, die auf die Kombination der zwei Hymnen folgt, ist ein Ausschnitt aus einem ursprünglich wohl eher zufällig mitgeschnittenen Studiogespräch zwischen Stockhausen und einem Studiomitarbeiter zu hören. Die Passage lautet: „Otto Tomek sagte, das mit dem Horst-Wessel-Lied gibt böses Blut. – Aber ich meinte es gar nicht so. – Es ist nur eine Erinnerung.“ Der Name Otto Tomek gerät so zu einer akustischen Signatur (deren die Hymnen zahlreiche enthalten). Treffender als durch diese Episode kann Otto Tomeks kaum zu überschätzende Stellung im Musikleben der bundesrepublikanischen Nachkriegsjahre wohl nicht beschrieben werden. Tomek, „der Mann im Hintergrund“ (S. 387), gehörte – besonders in den 1950er und 1960er Jahren – zu einer Handvoll einflussreicher und mächtiger Musikförderer; außer ihm waren dies Heinrich Strobel beim Südwestfunk Baden-Baden, Herbert Hübner beim Norddeutschen Rundfunk in Hamburg, Karl Amadeus Hartmann beim Bayerischen Rundfunk in München und Alfred Schlee beim Wiener Verlag Universal Edition. Sie alle verstanden sich nicht etwa als Mäzene, die ihre schützende Hand gönnerhaft über bedürftige Komponisten zu halten hatten, im Gegenteil, das Anliegen der Rundfunkleute war es vielmehr, dem Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Programmauftrages mit Überzeugung und Leidenschaft gerecht zu werden.
All jene Redakteure, Musikabteilungsleiter und Verlagsleiter waren außergewöhnlich charismatische Persönlichkeiten, die es verstanden, ihre Überzeugungen gegen teils erhebliche Widerstände durchzusetzen. Dass derartige Kämpfe auch gelegentlich verloren wurden, liegt auf der Hand. Davon, von Erfolgen und Niederlagen erzählt das Buch von Hans-Peter Jahn auf beeindruckende Weise. Jahn, Komponist, Cellist und Musikschriftsteller gleichermaßen, kam 1989 als Redakteur für Neue Musik zum Süddeutschen Rundfunk, ein Jahr nachdem Tomek seine aktive Rundfunkkarriere ebendort beendet hatte. Das 400 Seiten starke Buch ist übersichtlich gegliedert: Sieben Kapitel, die jeweils einem Lebensabschnitt gewidmet sind, werden von einem Prolog und einem Epilog umrahmt, hinzu kommen vier Kommentare, die zwischen die Kapitel eingefügt sind. Das erste Kapitel ist nicht Teil der biografischen Erzählung, es beleuchtet die Situation der Neuen Musik in den Jahren nach 1945, der Zeit also, in der Tomeks musikalische Sozialisation stattfindet. Jahn benennt den bis heute kaum aufgearbeiteten blinden Fleck der Musikgeschichte der Nachkriegsjahre: Etliche Komponisten, die im sogenannten Dritten Reich einflussreiche Posten innehatten, verharmlosten ihre Rolle später als bloßes Mitläufertum, nun kehrten sie erneut an die Schalthebel des Musikbetriebs zurück (unter ihnen Wolfgang Fortner und Carl Orff). Erst in den letzten Jahren ist bekannt geworden, dass auch der als integre Figur wahrgenommene Gründer der Darmstädter Ferienkurse, Wolfgang Steinecke, nur wenige Jahre zuvor ein glühender und aktiver Nazi gewesen war. Den Kontrapunkt zu dieser dunklen Seite der Geschichte sieht Jahn in der jungen, unbelasteten, Komponistentrias – Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Luigi Nono – ohne die sich die Nachkriegsmusik so nicht entwickelt hätte.
Otto Tomeks berufliche Karriere begann als Promoter bei der Universal Edition. Hier knüpfte er erste Kontakte zu jungen Komponisten, regelmäßig besuchte er die Festivals Neuer Musik in Donaueschingen, Darmstadt und anderswo, um über die neuesten Entwicklungen stets auf dem Laufenden zu sein.
Die darauffolgende Zeit beim WDR in Köln war die wohl wichtigste Zeit in Tomeks Laufbahn. Ganze 15 Jahre, von 1957 bis 1971, währte die erste Rundfunktätigkeit Tomeks. Beim WDR scheint er relativ freie Hand gehabt zu haben, häufig scheint er seine Interessen durchgesetzt zu haben. Hans-Peter Jahn gibt anhand von Dokumenten einen Einblick in die Kämpfe, die Tomek für viele (und mit vielen) der Komponisten ausgefochten hat am Beispiel von vier markanten Persönlichkeiten: Pierre Boulez, dessen Kantate Le visage nuptial 1957 beim WDR uraufgeführt wurde, Karlheinz Stockhausen (Gruppen für drei Orchester) sowie Luigi Nono und Bernd Alois Zimmermann. Bewundernswert, mit welchem Gleichmut und welcher Souveränität Tomek die Launen seiner Verhandlungspartner ertrug, ohne sich auf dieser Ebene mit ihnen einzulassen; kaum zu überbieten hierin der impulsive und schwierige Nono.
Die 77 Seiten umfassende Chronik zu den Werken, die häufig auf Kompositionsaufträgen basierten, welche Tomek angeregt hatte, ist beeindruckend. Ein wenig erschwert wird die Lektüre der zahlreichen, durchweg höchst aufschlussreichen Briefe dadurch, dass die Namen der Absender jeweils am Ende der Briefe stehen. Gelegentlich muss man erst eine Seite weiterblättern, um den Namen zu finden, in einzelnen Fällen ist kein Name angegeben. Bei nicht näher bezeichneten Werken wären Anmerkungen hilfreich gewesen; vermutlich hat der Autor auf sie verzichtet, um den Lesefluss nicht zu stören – handelt es sich doch um ein Lesebuch, nicht um eine wissenschaftliche Arbeit.
Unter den zahlreich erwähnten Komponisten ist Helmut Lachenmann einer der wenigen, die der Gunst Otto Tomeks nie teilhaftig werden konnten; die ersten Begegnungen der beiden fällt in eine Zeit weit vor dem „eigentlichen“ Werk Lachenmanns. Auffallend, dass etliche Komponisten des damaligen Ostblocks von Tomek beachtet und gefördert wurden, jedoch – außer Paul Dessau – keine Komponisten aus der DDR. Ein zutiefst erschütterndes Dokument teilt uns Jahn (aus Scham?) kommentarlos mit: Heinrich Strobel, allmächtiger Musikchef beim Südwestfunk Baden-Baden, verweigerte aus fadenscheinigen Gründen die Unterschrift unter eine Petition zugunsten der Freilassung Isang Yuns aus südkoreanischer Gefangenschaft (Yun war im Juni 1967 entführt, nach Korea verschleppt und gefoltert worden). Die vorgeschobene Ablehnung politischen Engagements geht hier eine fatale Allianz ein mit einem möglichen Desinteresse an dem Menschen Yun und seiner Musik, die vermutlich mit Strobels bekannter Ablehnung außereuropäischer Neuer Musik zu erklären ist (S. 230). Doch wenige Zeilen später führt Jahn ein positives Gegenbeispiel an: Hans Werner Henze, der sich für den in der damaligen griechischen Militärdiktatur festgehaltenen Mikis Theodorakis einsetzte.
Nach dem Tode Heinrich Strobels war die Stelle des Hauptabteilungsleiters Musik beim Südwestfunk frei geworden. Tomek ergriff die Chance und begann einen neuen Lebensabschnitt in Baden-Baden. Doch die Hoffnung sollte sich nicht erfüllen, die sechs Jahre in der neuen Stelle erwiesen sich als weit weniger glücklich als die Kölner Jahre. Tomek verliert den Kontakt zu den jetzt jungen Komponisten; die Leitung der Donaueschinger Musiktage gibt er nach vier Jahren ab. Die Dokumente zu diesem Kapitel beschreiben u.a. die Schwierigkeiten anlässlich der Uraufführung von Trans, einer Orchesterkomposition Stockhausens. Jahn rückt hier ausnahmsweise von der Beobachterposition ab, er nimmt Stellung für dieses vielgeschmähte, leider selten gespielte Werk.
1977 steht ein weiterer Wechsel an, dieses Mal zum Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart. Das zentrale Herzensprojekt sind nun die seit 1952 vom SDR übertragenen Schwetzinger Festspiele. Im Zentrum des Stuttgarter Kapitels stehen die Querelen um den schwierigen Dirigenten Sergiu Celibidache, der von den Musikern entweder leidenschaftlich gehasst oder bedingungslos geliebt wurde (S. 316). Ein letztes Kapitel widmet sich den letzten Jahren ab 1990.
Dank der geschickt ausgewählten und zusammengestellten Dokumente und Jahns unprätentiösem Schreibstil liest sich das spannende Buch flüssig. Die Abbildungen sind informativ; nur wenige Fotos kennt man aus anderen Publikationen. Die Aufmachung und der Satz des Buches sind wie immer beim Wolke Verlag sehr gelungen. Große Wermutstropfen sind indes die zahlreichen Nachlässigkeiten und Ungereimtheiten, die leider stehen geblieben sind (und in einer zweiten Auflage hoffentlich korrigiert werden). Die Textgestaltung ist auf den ersten Blick irritierend, denn, um auf einen Fußnoten- oder Endnotenapparat zu verzichten, sind die Nachweise in den Text integriert. Dies führt gleich bei deren erstem Auftreten in die Irre: Der Nachweis aus Fred K. Priebergs Buch Musik im NS-Staat bezieht sich nicht auf das unmittelbar davorstehende Zitat Wolfgang Steineckes, sondern auf die in den Zeilen davor erwähnte Ausstellung Entartete Kunst. Kein Problem ergibt sich bei Briefen, Gesprächsumschriften und anderen Dokumenten, sie sind eingerückt und in anderer Schrift gesetzt. Bei den Briefen bleibt es offen, ob und inwieweit die Textgestalt bereinigt oder geändert wurde; immerhin gibt es zahlreiche offensichtliche Lesefehler: Ein Werktitel von Luc Ferrari heißt richtig Visage, nicht Vissage (S. 170); in der dritten Zeile des Briefes von Cage an Tomek muss es heißen „those being parts“ statt „those bring parts“. Der Name von [Merce] Cunningham ist korrekt geschrieben, und doch steht ein sic dahinter. Lachenmanns Due Giri heißen nicht Due Gieri (S. 206); mit „Fr Frabis“ ist Francis Travis gemeint (S. 286) und Stockhausens Klavierstück X wird nicht von Frau Gutschmidt aufgeführt, sondern von Frank Gutschmidt (S. 381). Unklar bleibt zudem, ob gelegentliche falsche Zeichensetzung aus dem Original übernommen wurde oder ein Resultat der Umschrift ist. Auch im übrigen Text geht es mit der Namensansetzung zuweilen drunter und drüber: Der kürzlich verstorbene Komponist José Luis de Delás wird mal Delas geschrieben (S. 104), dann Dalas (S. 164) und in den Anmerkungen gar José-Luis de Delàs (S. 394). Aus Herbert Schernus wird Hubert Schernius (S. 104), und so weiter. Wer mit „Mauro“ gemeint ist (S. 198, 199), erfährt der Leser erst drei Seiten später.
Hans-Peter Jahn konzentriert sich in seinem Buch in der Hauptsache auf die berufliche Karriere Otto Tomeks; vermutlich aus Rücksicht auf noch Lebende erfährt der Leser wenig über das Privatleben Tomeks (es ist auch nicht Thema des Buches). Die Tatsache, dass Tomek sechs Mal verheiratet war, lässt darauf schließen (Jahn spielt darauf gelegentlich an), dass Tomek in entscheidenden Lebenssituationen die beruflichen Interessen den privaten vorzog.
Dass der Autor Hans-Peter Jahn die Mechanismen des Rundfunkbetriebes von innen kennt, erweist sich als Vorteil. Jahn benennt, nicht ohne Skrupel, heikle Entwicklungen und Tendenzen des gegenwärtigen Rundfunks (S. 251). Mit einer gewissen Wehmut sieht er Tomek als nicht nur den ersten, sondern auch den letzten „Tausendsassa-Redakteur“ – eine aussterbende Spezies (S. 343).
Das interessante Portrait des „Radio-Machers“ Otto Tomek präsentiert neben den Lebensstationen einen detaillierten Einblick in die Neue-Musik-Szene nach 1950, der durch die Fülle an dokumentarischem Material, das Jahn für dieses Buch zusammengetragen und ausgewählt hat, lebendig wird.
Inhaltsverzeichnis und Vorwort
Rüdiger Albrecht
Berlin, 04.02.2019