Musikwissenschaft 1900-1930. Zur Institutionalisierung und Legitimierung einer jungen akademischen Disziplin / Hrsg. von Wolfgang Auhagen, Wolfgang Hirschmann und Tomi Mäkelä – Hildesheim: Olms, 2017. – 368 S.: Abb. (Studien und Materialien zur Musikwissenschaft ; 98)
ISBN 978-3-487-15577-7 : € 39,80 (kt.)
Im Jahr 2013 wurde eines der frühesten selbständigen musikwissenschaftlichen Seminare an deutschsprachigen Universitäten, das in Halle, 100 Jahre alt. Das war Grund genug, über die Entstehung, die Absichten, die Konzeption und die über lokale Wissenschaftsgeschichte hinaus gehenden Wirkungen dieser Einrichtung im Rahmen eines ziemlich willkürlich gewählten Zeitraums der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zu reflektieren, übrigens zum zweiten Mal, denn auch im Jahr 1963 gab es zum 50-jährigen Jahrestag bereits einen solchen historisch orientierten Band unter zeitbedingten Voraussetzungen, der sich „Traditionen und Aufgaben der Hallischen Musikwissenschaft“ nannte, auf den aber hier seltsamerweise kaum Bezug genommen wird. In ausdrücklich als Fallstudien bezeichneten relativ unverbundenen Einzel-Untersuchungen werden sowohl eine Art Einkreisung als auch lokale, personale und zeitliche Bohrungen vorgenommen, um damit den mit der musikologischen Wissenschaftsgeschichte verknüpften Problemen näherzutreten. Beides: Beispielhaftigkeit und einen weiteren Problemaufriss erzielt zu haben, sind diesem Sammelband nicht abzusprechen. Denn, wie die Herausgeber zu Recht vermuten, sind die am Beispiel Halle auch durch Vergleiche und Weiterungen offenbar werdenden personellen und konzeptionellen Konstellationen und Begründungszusammenhänge der Musikwissenschaft in Deutschland bis in die beiden ersten Jahrzehnte des gespaltenen Nachkriegsdeutschlands in unterschiedlicher Weise wirksam geblieben und könnten (sollten) weitere Untersuchungen stimulieren. Fraglich erscheint eine positive Orientierung an einem Axiom, das die Soziologen Berger und Luckmann in die Welt gesetzt haben, welches – angewandt auf die Geschichte der Musikwissenschaft besagen soll, dass es stets darum gegangen wäre, „integrationsfähige Bedeutungen“ und einen „allgemeinverbindlichen Zusammenhang objektiver Sinnhaftigkeit“ zu stiften. Dass einzelne Musikwissenschaftler beanspruchten, so etwas konstruieren und begründen zu können, mag wohl wahr sein und kann auch anhand von Beispielen über die Denk- und Handlungsweise bestimmter ihrer Repräsentanten erhärtet werden, nie aber konnten sie für die „ganze Gesellschaft“, auf die es Berger/Luckmann abgesehen hatten (ja nicht einmal für jene der institutionalisierten Musikwissenschaftler selber) in Geltung gebracht werden.
Zu einigen der insgesamt 19 Beiträge ergeben sich einige Fragen, die hier aufgeworfen werden sollen. Da der Abendvortrag im Rahmen des Festakts zum 100-jährigen Bestehen des Instituts, der sich von Seiten Wolfgang Auhagens und Wolfgang Hirschmanns mit Arnold Scherings erfolgreichen Bemühungen um den Einbau einer Orgel in der Universitätsaula im Jahr 1926 beschäftigt, zwar die instrumentaltechnischen, aber nicht die ideologischen Implikationen der Orgelbewegung zur Darstellung bringt, erscheint das Einschwenken Scherings auf die nationalsozialistische Variante der Verwirklichung von Einheit der Wissenschaft mit einer (völkischen) Musikpraxis als unerklärlicher Bruch. Elemente der Modernitätsverweigerung könnten jedoch bereits in bestimmten Argumenten der Vertreter der Orgelbewegung präfiguriert gewesen sein, deren sich dann auch die Nationalsozialisten geschickt bedienten, und könnten Kontinuitäten in der Gedankenwelt Scherings signalisieren.
Ähnlich unerklärlich bleibt in der Darstellung von Wolfgang Ruf die Entwicklung von Oskar Fleischer. Das Übergreifen musikfremder, aus der Philologie gewonnener Maßstäbe auf rein-musikalische Sachverhalte, wie man es am Beispiel Fleischers, wie übrigens auch Ludwigs, exemplifizieren könnte, wird nicht thematisiert, obwohl man damit einen Teil der Erklärung dafür, wie aus einem begabten und präzise an antiken und mittelalterlichen Gegenständen arbeitenden Literaturwissenschaftler ein gescheiterter Musikwissenschaftler werden konnte, schon in Händen hielte. Auch werden Fleischers Bemühungen oder „Verdienste“ um den Aufbau der Internationalen Musikgesellschaft (IMG) in etwas zu positivem Licht geschildert, ging es Fleischer doch von vornherein um die Errichtung einer deutschen Hegemonie in diesem internationalen „Erfahrungs- und Gedankenaustausch“ durch zentrale Lenkung von Berlin aus. Nicht nur für die Zeitschrift der IMG, auch für deren Sammelbände und Beihefte gab es deutsche Vorläufer-Publikationen und schon der Ton, den Fleischer in seinen Beiträgen für die Vierteljahrsschrift von Spitta, Chrysander und Adler gegenüber der ausländischen Musikpublizistik angeschlagen hatte, zeigte, dass es ihm darum ging, die Überlegenheit der deutschen Forschung (vor allem in seiner Person) unter Beweis zu stellen, war ihm doch nicht nur die Musik als solche eine „germanische Tonkunst“, sondern auch deren Wissenschaft eine germanische Errungenschaft und von ihm ausgeübte germanische Tugend. Sein Geschrei über den „Krieg gegen die deutsche Kultur“, der im ersten Weltkrieg entfacht worden wäre, war auch der Reflex des enttäuschten Hegemonisten auf die misslungene Durchsetzung seines Führungsanspruchs. Dass die persönlichen Zurücksetzungen, die Fleischer auch von deutschen Kollegen wegen seines Auftretens und seiner wissenschaftlich zweifelhaften bis unhaltbaren Thesen erfuhr, zu einer Versteifung auf seine chauvinistischen Außenseiterpositionen führte, mag als psychologische Erklärung plausibel sein, historisch bedeutend ist aber die Tatsache, dass seine verquasten Behauptungen trotz ihrer vorübergehenden Zurückdrängung durch liberale Kollegen in der Weimarer Zeit, letztlich 1933 wieder siegreich und zur Staatsdoktrin werden konnten. Letztlich würde es den positiven Leistungen Fleischers völlig angemessen sein, sie auf seine notations- und instrumentenkundlichen Entdeckungen zu reduzieren. Völlig rätselhaft bleibt, was Ruf am Schluss meint, wenn er positiv hervorhebt, Fleischer habe „die Autonomie musikhistorischer Forschung verfochten und die überzogene Funktionalisierung zugunsten der Kunstpraxis abgelehnt“. Was sollte an dem Dünkel einer Selbstbestimmtheit musikhistorischer Forschung so Fleischer ihm angehangen haben sollte (wofür Ruf in seiner Darstellung selbst kein Indiz erbringt) positiv sein? Was könnte für die Musikforschung eine größere Ehre sein, als dass sie für die Musikpraxis, für das reale Erklingen von Musik oder zumindest für dessen Verständnis eine Funktion hätte?
Als völlig gescheitert muss Karsten Mackensens Versuch angesehen werden, eine alternative Rezeption der Frühschriften Heinrich Besselers als Beitrag zu einem Alte-Musik-Diskurs zu offenbaren, der nicht historistisch oder handwerklich-technisch, d.h. aufführungspraktisch, sondern kulturphilosophisch gemeint gewesen sein soll. Seine beredte und mit einem überdimensionierten Kategorienapparat aufwartende Über- und Fehlinterpretation der Ansichten Besselers ist völlig haltlos. Er kann kein einziges Zitat aus Besselers Schriften beibringen, das auch nur Umrisse eines „Alteritätskonzepts“ von Alter Musik, das zugleich eine systematische Verknüpfung mit Neuer Musik erlauben würde, durchschimmern ließe. Besselers lebensphilosophisch und existentialistisch angehauchtes Gerede von Umgangs-, Gebrauchs- und Gemeinschaftsmusik ist gerade keine Absage an die Fluchtbewegung aus der Krise der Moderne, sondern nur eine Spielart davon. Dazu hatte sich Besseler auch praktisch zu sehr an Veranstaltungen beteiligt, in denen Musik als verfügbares, d.h. zurechtgestutztes Erbe nicht nur „dargeboten“ werden, sondern auch „nicht als etwas Fremdes [oder Andersartiges] in den Alltag hineintreten“ sollte (von Macksensen selbst zitiert auf S. 218). Überhaupt scheint der konstruierte Gegensatz von historisch und systematisch, von bloß aufführungspraktisch und geschichtsphilosophisch völlig untauglich, Besselers zwischen Gurlitt und Hindemith changierende Ansichten zu charakterisieren. Auch gibt Mackensen von der realen Alte-Musik-Bewegung der Jetztzeit ein ziemlich flaches Bild, wenn er unterstellt, sie würde mit ihren performativen und editorischen Rekonstruktionsversuchen allein Authentizität und Originalklang propagieren (das ist wohl mehr das Gewäsch des Kulturbetriebs, der die Bewegung gerade vereinnahmt), anstatt um die Fremdheit und Unwiederbringlichkeit älterer Musik zu wissen. Alte Instrumente und aufführungspraktische Erwägungen sind es aber gerade, die die Distanz der Gegenwart zu alter Musik erst ermöglichen und deutlich machen, dass Spielweisen gefragt sind, die auf unausgeschriebenen Regeln für Verzierung und Improvisation beruhen, deren sich schon die historisch Aufführenden jeweils unterschiedlich und situationsbedingt bedienten. Überflüssig zu erwähnen, dass Mackensens Besseler-Rezeption unfähig wäre zu erklären, warum Besseler mehr als opportunistisch oder taktisch mit dem NS-Konzept von Gemeinschaftsmusik sympathisierte.
Darüber hinaus enthält der Band u.a. eine triftige Interpretation von Hermann Aberts bereits 1963 veröffentlichter Denkschrift an das preußische Kultusministerium von 1911 über die musikalischen Verhältnisse an der Universität Halle-Wittenberg, die Kathrin Eberl-Ruf dadurch profilieren kann, dass sie sie mit Gustav Jacobsthals Memorandum von 1883 vergleicht, erstaunliche Übereinstimmungen feststellen, aber auch durch die weitere Dokumentation von Aberts Lehrplänen und einiger aufgefundener Seminar-Mitschriften indirekt deutlich machen kann, zu welch unterschiedlichen didaktischen Konzeptionen ähnliche Ansichten führen konnten.
Zu den in den Band aufgenommenen Weiterungen gehört an zentraler Stelle ein von Dörte Schmidt und Franziska Stoff vorgelegter ausführlicher Bericht über die Konzeptionen, die Joseph Joachim zusammen mit Friedrich Chrysander für die Berliner Musikhochschule entwickelt hatte. Man würde sie im Jargon des Wilhelminismus wahrscheinlich „kolossal“ nennen müssen, wüsste man nicht, dass die heutige stolze Existenz einer Fakultät Musik einer Universität der Künste zu Berlin mit einer starken musikwissenschaftlichen Abteilung mit Promotionsrecht nicht etwa jüngeren hochfliegenden Ambitionen des Berliner Senats entsprungen ist, sondern eben jenen hier anhand dokumentarischen Materials entrollten Ursprungskonzepten entspricht. Dass demgegenüber andersartige, ja gegnerische, hier fast unerwähnt bleibende Konzepte, die sich darauf bezogen, auch die praktische Musikausbildung (zumindest der Schulmusiker) an die geisteswissenschaftliche Fakultät der Berliner Universität zu ziehen, auf verlorenem Posten stand, wird dann einleuchtend. Zwei der weiteren personenbezogenen Beiträge befassen sich mit Carl Stumpf als Pionier der Musikethnologie, zwei weitere mit Guido Adlers Jahren in Prag und Wien. Weitere institutionsgeschichtliche Studien befassen sich mit Verhältnissen in Göttingen, Breslau und Königsberg. Ein insgesamt materialgesättigtes Panorama über die musikwissenschaftliche Atmosphäre jener Zeit, der man viele wissbegierige und kritische Leser wünscht.
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Peter Sühring
Bornheim, 26.03.2018