Loos, Helmut: E-Musik. Kunstreligion der Moderne. Beethoven und andere Götter – Kassel: Bärenreiter, 2017. – 160 S.
ISBN 978-3-7618-2435-1 : € 29,95 (kt.)
Ein warnendes Buch auch für all jene, die anno 2020 Beethoven-Feierlichkeiten zur 250. Wiederkehr von dessen Geburtstag in Bonn, Wien und anderswo zu veranstalten haben. Man sollte nicht nur auch noch andere Götter haben neben Beethoven, nein, man sollte überhaupt aufhören, Musiker, Komponisten zumal, Beethoven vor allen anderen, zu vergöttern – das ist die Botschaft dieses kleinen Büchleins, in dem der Leipziger Musikwissenschaftsprofessor Helmut Loos seine in den letzten Jahren verstreut erschienenen ideologiekritischen Zwischenrufe und historischen Untersuchungen über idealistische Musikgeschichtsschreibung gesammelt hat. Man darf nicht glauben, Einwände gegen solche aus dem 19. Jahrhundert mitgeschleppten verstiegenen Ansichten über die Tonkunst (wenn nicht auch dieses relativ schlichte Wort aus dem Wörterbuch des Übermenschen stammen sollte) hätten sich heutzutage erledigt. Wie quicklebendig derartige Musiküberhöhung ist und jederzeit sprungbereit der sich seriös dünkenden Feuilletons der Republik wieder bemächtigen kann, zeigte sich in diesem Frühjahr anlässlich der Nachrufe auf den vergötterten Großkritiker Joachim Kaiser und einem selbstherrlichen Gesäusel über dessen Lebensleistung. Der ganze Furtwängler-Himmel ward wieder aufgerissen: „Verwahrung des Allerheiligsten, Wunder, Engelskomponistenzungen, göttliche Anschaulichkeiten, hohe Künste, Universalkritiker, herrlicher Liturgiker, Zelebrieren in der Kathedrale, Auslegung der unbegreiflich hohen Werke der Tonkunst, Sternstundenzauber, Seelenabgrundabenteuer sinfonischer Riesenwerke, publizistisches Ereignis, zu Herzen gehendes Durchdrungensein“ (so zu lesen in der F.A.Z., 11.05.2017). Das Allerheiligste sind selbstredend Beethovens späte Streichquartette, das kosmische Musikereignis schlechthin. Alles trieft vor bedeutungsvoller Bedeutung, nichts Genaues weiß man nicht.
Schön war der Ausspruch von Alfred Goodman, U und E kenne er nur vom Fahrstuhl her, oder der von Ravel, das Verdikt gegen die U-Musik sei ein typisch deutsches Problem und Missverständnis. Gewiss, es gibt sie, die ernste Musik, als Teil der E- wie der U-Musik – wie es auch heitere Musik in der E-Musik gibt: sie ist das Leichte, das schwer zu machen ist – tonkünstlerisch gesehen. Wie generell gute Unterhaltung, die sogenannte leichte Muse, schwer zu machen ist. Von blutig-ernsten, gewalttätigen Exzessen in der Popmusik ganz zu schweigen, welche heutzutage relativ billig zu machen und zu haben sind.
Hier aber geht es um weltliche Musik als Religion, besser noch: als Religionsersatz, der wiederum mit echt religiöser Musik, mit sakraler Musik, Kirchenmusik oder spiritueller Musik, gar nichts zu tun hat. Diese Grenzen nicht genau gezogen zu haben, ist vielleicht einer der Nachteile dieser sonst sehr hellsichtigen Essays. Das zeigt sich besonders bei unzulässig fließenden Übergängen im Brahms-Essay. Denn die verquere Behandlung von Brahms als Beethoven-Nachfolger in einem kunstreligiösen Sinn sollte man nicht verquicken mit einem authentischen Brahms, dem Komponisten eines genuin religiösen Werks wie Ein deutsches Requiem, in dem er zum Teil ekstatisch private, biblisch inspirierte Momente von Tröstung und Verheißung musikalisch umsetzen wollte.
Man merkt allenthalben, dass Loos’ Verwunderung über die mal mit dem Einzug der Moderne (besonders der Säkularisierung), mal mit der Romantik ursächlich verknüpfte Existenz einer musikalischen Kunstreligion und ihre Ablehnung seinerseits wohl mit seiner Enttäuschung darüber zusammenhängt, dass die authentisch religiöse Musik, die Musica sacra, auch die eines Beethoven, als solche nicht mehr wahrgenommen und ernstgenommen wird. Dies zeigt sich an seinem Ärger über den Versuch von dialektisch aufgeklärter Seite, Beethovens Missa solemnis gar nicht mehr als Messkomposition, sondern als „verfremdetes Hauptwerk“ einer „absoluten Musik“ zu diskutieren. Aber gerade diesen Anspruch auf genuin religiöse Musik kann auch Brahms, trotz seines skeptischen Protestantismus, für einige seiner Werke (insbesondere für Ein deutsches Requiem) geltend machen.
Auf die allenthalben platzgreifende Apotheose Beethovens braucht man nicht mit einer mutwilligen Verniedlichung seiner Tonkunst zu antworten – es reicht der Hinweis auf jene Musik und jene Zeitgenossen, die Beethoven selbst verehrte und von denen beeinflusst zu sein er nie geleugnet hätte und die zu überbieten er stets anstrebte: Méhul, Grétry, Cherubini, Clementi etc. Die Pointe ist ja die, dass man Beethoven nicht recht verstehen kann, ohne diese Musik, auf die er reagierte, über die er Musik machte, zu kennen und zu würdigen wie Beethoven selbst es getan hat.
Die ideengeschichtliche Herleitung des deutschen Krankheitssymptoms einer profanen Musik als Heiligtum erscheint bei Loos etwas verkürzt, er terminiert die Herkunft weitgehend ins 19. Jahrhundert, ohne seine Wurzeln im deutschen Protestantismus, im Reflex gegen die romanische oder westliche Leichtlebigkeit zu verfolgen. Auch spezifisch deutsche Mentalität, Gründlichkeitswahn und Arbeitsethos führten zur Überhöhung und Perfektionierung von kompositorischen Techniken, die deutsche Musiker zwar nicht erfunden, aber sich zu eigen und gesteigert hatten, wie das Fugieren und „Durchführen“ von Themen und Motiven. Lehrreich für Einsichten ins 19. Jahrhundert sind allerdings besonders Loos’ zwei in dieser Sammlung enthaltenen Abhandlungen über den Kulturdarwinismus in der deutschen Musikgeschichtsschreibung, die klarmachen, woher die Überhebung über andere Nationen in musikalischen Dingen kommt.
Erstaunlich und erfreulich an diesem Büchlein ist ebenfalls, dass es heutzutage in einem Verlag erscheinen kann, der in vergangenen Jahrzehnten an der Entfaltung einer Heldengeschichtsschreibung der deutschen Musik nicht gerade unbeteiligt war. Sollte diese Publikation als ein Beitrag zur Selbstkritik gemeint sein?
Peter Sühring
Bornheim, 29.10.2017