Kemper, Peter: Sgt. Pepper. 100 Seiten. – Stuttgart: Reclam, 2017. – 100 S.: 25 Infografiken u. Fotos (100 Seiten)
ISBN 978-3-15-020432-0 : € 10,00 (brosch.; auch als e-Book)
London, 4. Juni 1967. Kurz vor ihrem Auftritt ruft Jimi Hendrix seine beiden Bandkollegen Noel Redding und Mitch Mitchell zu sich. Ein neuer Song soll spontan ins Programm aufgenommen werden; der Hinweis auf Akkorde, Rhythmus und Ablauf muss reichen. Dieses ungewöhnliche Probenkonzept beweist nicht nur die Flexibilität und Klasse dieser Musiker. Dass der amerikanische Gitarrist als Großmeister des künstlerischen Regelbruchs das Titelstück einer Platte der Beatles auswählt, die erst wenige Tage zuvor erschienen ist, kommt einem Ritterschlag gleich. Wenn der aufregendste Instrumentalist der zweiten Hälfte der 1960er Jahre von Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band so begeistert ist, muss dieses Album etwas Besonderes sein. Und so ist es. Zweifelsohne gehören nicht nur die Musik – und damit deren einzelne Stadien von der Idee über Komposition, Interpretation und Produktionstechnik – sondern auch die Covergestaltung zu den wichtigsten akustischen und visuellen Artefakten der Popgeschichte.
So ist es nahe liegend, dass der Stuttgarter Reclam Verlag dieses Album zum 50. Jahrestag der Veröffentlichung in seine neue 100 Seiten-Reihe aufgenommen hat. Auch hier lohnt sich ein kurzer Zwischenstopp: Einen schnellen Überblick zu aktuellen und relevanten Themen verspricht die Marketing-Abteilung des Verlags; 100 Seiten für 100 Minuten, die persönlich geschrieben, modern gestaltet und unterhaltsam präsentiert werden. Zwar liegt dem Rezensenten nur der Sgt. Pepper-Band aus der Reihe vor, zu der sich im Programm noch Abhandlungen zu Mata Hari, Thrash-TV oder den Menschenrechten gesellen, die Qualität der vorliegenden 100 Seiten aber steht außer Frage.
Als Autor konnte Reclam den Publizisten und Hörfunkredakteur Peter Kemper gewinnen, der bereits mehrere Buchveröffentlichungen zur Jazz- und Popkultur vorweisen kann. Aus der Einleitung, in der sich der Autor in einer Art Erlebnisbericht an die 1960er Jahre erinnert und diese Reminiszenzen wohl mit Hunderttausenden teilt, lässt sich kein größerer Erkenntniszuwachs gewinnen. Aber davon sollte man sich nicht täuschen lassen. Die ersten Seiten dienen vielmehr der Versicherung, dass das Thema eine Herzensangelegenheit für Kemper sei, und schon nähert sich der Autor schnell und intensiv dem Nabel der damaligen Popwelt: dem Swinging London der zweiten Hälfte der 1960er Jahre. In 13 Kapiteln greift sich der Autor jeweils einen Aspekt heraus, der Vorgeschichte, Entstehung und Nachwirkung des „Sgt. Pepper“-Albums beleuchtet. Hierzu gehören der Abschied der Beatles von der Konzertbühne und damit auch von der Massenhysterie, die sie jahrelang begleitet hat; die Suche nach einem neuen Selbstbewusstsein und hoch reflektierten musikalischen Ausdrucksformen; der transatlantische Blick zur Konkurrenz, vor allem zu Brian Wilsons Beach Boys; autobiografische und bewusstseinserweiternde Texte; die Inbesitznahme des Aufnahmestudios als Ort künstlerischer Selbstfindung und Weiterentwicklung; avantgardistische Klang- und Collagetechniken; Kostümierung; Coverkunst; und schließlich die Verschwörungstheorien über das angebliche Ableben von Paul McCartney.
Peter Kempers Blick orientiert sich an den Fakten, setzt diese aber immer zueinander in Beziehung. Klug und einleuchtend ordnet er sie in das zeitgenössische kulturelle und gesellschaftliche Umfeld ein. Wenn er beispielsweise die Entstehung der Hippie-Bewegung nachzeichnet und die Bedeutung von Drogen für das Selbstbewusstsein erläutert, kann er die musikalischen Mittel, derer sich die Beatles bedienten, das irrwitzig bunte Klang-Kaleidoskop auf „Sgt. Pepper“ mit diesem Phänomen abgleichen. Ähnlich überzeugend geht Kemper den Fragen nach, ob die oft formulierte Kategorisierung der Platte als Konzeptalbum tragbar ist (nein, ist sie nicht) oder die Produktion den Zeitpunkt markiert, an dem die künstlerische Leitung der Band John Lennon allmählich entglitt und von Paul McCartney aufgefangen wurde (ja, tat sie).
Zusammen mit dem bewusst ausgewählten Bildmaterial und den unterhaltsam gestalteten Infografiken (etwa zum Verhältnis der Instrumentenzahl in den einzelnen Stücken oder zu den verschiedenen Berufsgruppen der auf dem Cover abgebildeten Personen) ist Peter Kemper – und damit Reclam und seiner neuen Reihe – tatsächlich gelungen, was zuvor versprochen wurde. Und nicht zuletzt wird hier fundiert, aber nicht überfordernd eine Lücke zwischen knappen Lexikon-Artikeln und ambitionierten wissenschaftlichen Großprojekten geschlossen.
Inhaltsverzeichnis und ausführliche Hörtipps
Michael Stapper
München, 09.09.2017