Hall of Shame. Die größten Irrtümer in der Geschichte des Rock n’Roll / Hrsg. von Jim DeRogatis und Carmél Carrillo. – Berlin: Rogner & Bernhard, 2006. – 410 S.
ISBN 3-8077-1013-2 : € 22,90 (geb.)
Als Greil Marcus im Jahre 1979 mehrere Autoren verkünden ließ, welche Platten sie auf die einsame Insel mitzunehmen gedächten, leistete er einen wichtigen Beitrag zur Musealisierung populärer Musik. Wenn die Zusammensetzung von Bestenlisten nicht mehr von trockenen Verkaufszahlen abhing, sondern auch vom Sachverstand der Experten, war die Kanonisierung nicht mehr aufzuhalten. Die berühmte einsame Insel ist wegen Überfüllung längst im Meer versunken, doch kaum ein Journalist, Redakteur oder Autor lässt es sich nehmen, sein potentielles Reisegepäck in der Öffentlichkeit zu öffnen. 25 Jahre später tun dies auch Jim DeRogatis und Carmél Carrillo und erstellen eine Liste, die sie – in Anlehnung und Abgrenzung zur Ruhmeshalle in Cleveland, Ohio – Hall of Shame nennen. Ein publizistischer Kunstgriff, handelt es sich bei den Tonwerken doch um Exemplare, die die Autoren keinesfalls auf ihren Packzettel notieren würden. Über 30 Kritiker der jüngeren Generation wurden aufgefordert, den von ihren Vorgängern errichteten Kanon einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Die Motivation für dieses Buch ist nachvollziehbar: Wer jahrzehntelang Mythenbildung ertragen musste, wird die Heiligtümer entweder akzeptieren, ignorieren oder aber demontieren. Dass der dritte Weg nicht nur äußerst lustvoll ist, sondern auch das gehörige Maß an publizistischer Aufmerksamkeit sichert, versteht sich von selbst.
Entstanden ist eine Anthologie, deren Autoren sich mit Hingebung und Detailkenntnis ihren Less-Wanted-Objekten zuwenden und dabei ihrer Hassliebe auf unterschiedliche Weise Ausdruck verleihen. DeRogatis eröffnet den Reigen mit der Abrechnung von – wie könnte es anders sein – Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band. Nicht die Beatles aber stellt er in Frage, sondern nur dieses eine Album, das nach Meinung von DeRogatis weit hinter anderen Platten der Liverpooler zurückbleibt. Während das Werk hier also musikalisch-qualitativ hinterfragt wird, wendet sich die geborene Südstaatlerin Jeanne Potts gegen Pronounced Leh-nerd Skin-nerd und kritisiert das romantische Dixie-Flair, das ihre Landsleute von Lynyrd Skynyrd weit entfernt von jedweder Realität verkünden. Andere wiederum verknüpfen ihre Alben mit besonderen biografischen Begebenheiten, die ihnen inzwischen peinlich geworden sind. Auf diese Weise hören sich die Autoren durch Jahrzehnte von Pop- und Rockmusik und stellen Smile (Beach Boys), Kick Out the Jams (MS5), Horses (Patti Smith), Born to Run (Bruce Springsteen) oder Nevermind (Nirvana) mit Vergnügen an den Pranger. Und das nur, um am Ende ihre eigenen Best-Of-Listen zu präsentieren, in denen viele der kritisierten Alben wieder auftauchen – es ist dies ein versöhnliches Ende eines humorvollen, sorgfältig editierten und sehr lesenswerten Buches.
Michael Stapper
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 27 (2006), S. 402 f.