Musik im Spannungsfeld zwischen nationalem Denken und Weltbürgertum. Franz Liszt zum 200. Geburtstag / Hrsg. von Dorothea Redepenning. – Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2015. – 311 S., 40 Abb.; Notenbeisp. (Germanisch-Romanische Monatsschrift ; Beiheft 67)
ISBN 978-3-8253-6367-3 : € 82,00 (geb.; auch als e-Book)
Das im Titel des Buchs umrissene Konfliktpotential zwischen nationalem Denken und Weltbürgertum ist angesichts der heutigen Kultur- und Weltpolitik aktueller denn je. In gewisser Weise könnte man Franz Liszt als historischen Kronzeugen anrufen sowohl für ein Bekenntnis zum Nationalen als auch zum Globalen – und zugleich für den Versuch, in der Musik das lokal Umgrenzte und das Grenzenlose des menschlichen Geistes wechselweise ineinander zu spiegeln und den Konflikt aufzuheben. Der Bericht zum Heidelberger Symposium von 2011 berücksichtigt all diese möglichen Facetten und akzentuiert sie in aller Schärfe – auch da, wo je nach herangezogener Quelle, je nach Blickrichtung oder Erkenntnisinteresse scheinbar Widersprüchliches ganz nahe aneinander rückt. In Beiträgen aus acht Ländern, mindestens vier unterschiedlichen Disziplinen (Musik, Literatur, Geschichte, Philosophie) und in den zwei Sprachen Deutsch und Englisch wird Liszt damit in der Tat innerhalb eines Spannungsfelds verortet und nicht etwa auf nur eine von vielen möglichen Positionen festgelegt. In der Vielstimmigkeit der Darlegungen liegt die große Stärke dieser Publikation.
Ein erster Thementeil, betitelt „Kultur und Politik“, bringt die Heterogenität möglicher Blick- und Deutungsansätze exemplarisch zur Geltung. „Weimar“ erscheint in Beiträgen von Detlef Altenburg (†) und Klaus Ries sowohl als Projektionsfläche für Liszts globale Ideen zur reinen Kunst als auch fürs Nationale. Nicolas Dufetel weist jedoch darauf hin, wie stark selbst in Liszts Weimarer Zeit seine französische Sozialisation mit zu berücksichtigen sei. Dass Dufetel anhand von bislang unpublizierten Quellen auch etwas über den Diplomaten Liszt aussagt, ist ein kleines Highlight des Bandes. Rossana Dalmonte zeigt, wie „Universalität“ die unlösbare zweite Seite von Liszts nationalen Ideen ist. Jonathan D. Bellmann reflektiert Liszts ungarische Facette im Kontext von „the Anxiety of National Identity“.
Diese fünf Beiträge entwerfen Denkbahnen, die sich im folgenden Großkapitel, „Komposition und Ästhetik“, weiter entfalten. So lässt sich der Aspekt der Universalität (bei Dalmonte anhand des Pater noster auch musikalisch belegt) in den von Cord-Friedrich Berghahn untersuchten intermedialen Vernetzungen der Années de Pèlerinage weiterdenken. Dorothea Redepenning zeigt anhand von Liszts Spätwerk, wie sehr der Deutsch-Französische Krieg für den in frankophoner Geisteshaltung aufgewachsenen Liszt zur Krise wird, da die Zeitläufte sein Ideal einer die Nationen ebenso konstituierenden wie zu deren Gleichberechtigung beitragenden Musik unmöglich machen (übrigens mit nachvollziehbaren Auswirkungen auf sein Komponieren). „Anxiety of National Identity“ bietet den plausiblen Anknüpfungspunkt für die Lektüre von Ágnes Watzatkas Untersuchung zur Ungarischen Krönungsmesse, Gunnar Hindrichs Überlegungen zu den Ungarischen Rhapsodien und vor allem zu den über Liszt hinausreichenden Fallstudien im dritten, „Rezeption und Transfer“ überschriebenen Großkapitel: In den Untersuchungen von Elena Chodorkovskaja zur Biographie Anton Rubinsteins, von Kenneth DeLong zum Schaffen Bedřich Smetanas, von Jens Hesselager zu dem Dänen Henrik Rung und von Valentina Sandu-Dediu zur rumänischen Musik wird Liszt nicht etwa als übermächtiges Vorbild inszeniert, sondern es geht um die Vergleichbarkeit von Problemfeldern – sehr zum Vorteil der nationalen Musiken. Denn es zeigt sich, dass auch an den Rändern Europas das Nationale stets aus der grenzüberschreitenden Aufgeschlossenheit für Werke anderer Sprachen, anderer Stile und Schulen erwächst.
Das Gemeinsame im Fremden und das Individuelle im Rezipierten aufzuzeigen gelingt besonders markant im Fall von Ferruccio Busoni, der das Vorbild Liszt in seinem Leben und Schaffen explizit ins Eigene transportiert. Susanne Fontaine und Thomas Menrath richten in ihrem entsprechenden Beitrag den Blick zugleich auf die Weiterführung einer dezidiert als Liszt-Tradition begriffenen Musiziertradition – welche Thomas Schipperges sodann als eine Konstruktion entlarvt: Indem er zeigt, welche Wünsche und Bedürfnisse hinter der „Erinnerungsfigur“ der sogenannten Liszt-Schüler stehen, welcher Rezeptionsmodus hier gern und wiederholt bedient wird, legt er Denkstrukturen frei – und exerziert damit am Beispiel der Liszt-Schülerschaft nichts anderes durch, als es der gesamte Tagungsbericht implizit mit dem Phänomen Liszt tut.
Diese dem Band innewohnende Bereitschaft, das gewählte Thema auf der Höhe der aktuellen Forschung sowohl zu bekräftigen als auch zu hinterfragen, nimmt immens für diese Schrift ein. Denn hier wird deutlich, was Musikwissenschaft bei aller fragilen Legitimierbarkeit von Kunst in unserer pluralistischen Welt dennoch zu leisten vermag.
Jeder Beitrag ist durch ein kurzes englischsprachiges Abstract eingeleitet, es gibt ein Personen- und Werkregister sowie ein Sach- (und Orts-)register, wenn auch leider keine Informationen zu den Autorinnen und Autoren. Die sorgsame Ausgestaltung des Buches rechtfertigt den auf den ersten Blick eher gehobenen Preis.
Kadja Grönke
Oldenburg, 29.12.2016