Jüdischer Almanach Musik / Hrsg. v. Gisela Dachs. –. Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2016. – 272 S.: zahlr. SW-Fotografien von Vered Navon (Jüdischer Almanach)
ISBN 978-3-633-54279-6 : € 18,00 (Taschenbuch; auch als e-book)
Herausgegeben vom Jerusalemer Leo Baeck Institut beleuchtet der Jüdische Almanach seit 1993 regelmäßig verschiedene Aspekte jüdischen Lebens, jüdischer Geschichte und Identität. Die Anfänge der Reihe reichen jedoch wesentlich weiter in die Vergangenheit zurück. 1902 veröffentlichte der neu gegründete Jüdische Verlag in Berlin die erste Ausgabe des Almanachs. Wie einer der Herausgeber, Berthold Feiwel, betonte, sollten mit der Publikation auch die Gemeinsamkeiten der ost- und westeuropäischen Juden betont werden, die sich sowohl auf ihre überlieferten Traditionen beriefen als auch den Anschluss an die westeuropäische Kultur suchten. Wenn der aktuelle Jüdische Almanach sich der Musik in all ihren Erscheinungsformen innerhalb des jüdischen Lebens zuwendet, so ist es genau diese Verschränkung verschiedener Sphären, Regionen oder Spielarten, die das kaum zu fassende Thema zusammenhält.
Aber der Reihe nach: Dieser Almanach ist der Musik gewidmet. Jüdischer Musik. Oder: Musik von Juden. Oder: Musik im Dienste jüdischer Religion. Natürlich gibt es einzelne Fragmente, die dem Leser in den Sinn kommen: Klezmer, Synagogengesänge, die Psalmen Davids. Doch wie die Musikwissenschaftlerin Heidy Zimmermann am Ende ihres mit der Frage „Was ist jüdisch an jüdischer Musik“ betitelten Aufsatzes bilanziert, solle man auf „simplifizierende Schablonen verzichten“ (S. 27). Kurz und klug verfolgt Zimmermann die Diskussion um jüdische Musik in den letzten knapp 200 Jahren, um gerade die „Heterogenität, ja Gegensätzlichkeit“ der „Musik in jüdischer Geschichte und Kultur“ (ebd.) zu betonen. Diesen einleitenden Gedanken folgen 20 Essays, in denen überwiegend Wissenschaftler verschiedener geisteswissenschaftlicher Fachrichtungen, aber auch einzelne Künstler, die unterschiedlichsten Aspekte des Spektrums beleuchten. Optische Intermezzi bilden die Aufnahmen der Fotografin Vered Navon, auf denen mit Skulpturen von Musikinstrumenten ausgestattete Verkehrsinseln in der israelischen Stadt Rosh Ha’ayn abgebildet sind.
Einen Blick weit in die Vergangenheit werfen Mark Kligman („Musik und Judentum“), Shoshana Liessmann (“Musik im Spiegel der Bibel”) und Tina Frühauf, die den Einsatz der Orgel im Gottesdienst untersucht. Im Umfeld der Shoah angesiedelt sind die Aufsätze von Robert Dachs („Wiener Publikumslieblinge – vertrieben, ermordet, unsterblich“), Ruth Frenk („Freizeitgestaltung in Theresienstadt“) und Leo Treitler, der sich mit einer Gastspielreise des Orchesters Max Raabe in Israel beschäftigt. Irit Youngerman blickt auf das Palestine Orchestra und dessen Programm, während Na’ama Sheffi die Frage der Zensur im Musikleben des israelischen Staates betrachtet. Die jüngere Vergangenheit wird abgebildet von Joel E. Rubin (Klezmer in Deutschland), Ofer Waldman („Israelische Musiker in Deutschland“), Aviv Livnat (Abel Ehrlich) und David Witzthum in seiner mitreißenden Liebeserklärung an die Kammermusik, die von aus Deutschland stammenden Juden, den Jeckes, ausgeübt wird. Angekommen in der Jetztzeit widmen sich Motti Regev dem israelischen Pop-Rock, Hanno Lewy dem Punk und Doron Rabinovici der Indie-Band Acollective. Die Verschränkung zwischen der jüdischen und islamischen Kultur (Edwin Seroussi), eine Biografie über den jüdischen Broadway-Star Zero Mostel (Stuart J. Hecht), Essays über Jazz, Juden und Afroamerikaner (Tad Hershorn) und den jiddischen Tango (Oren Roman und Susanne Zepp) sowie ein Gespräch zwischen György Ligeti und Mauricio Kagel runden das Bild ab.
Die Fülle an Themen setzt der Tiefe der Betrachtung selbstverständlich Grenzen. So hätte sich der Leser bei dem von den Nazis im Lager Theresienstadt in zynischer Weise organisierten Musikleben mehr Fakten durchaus gewünscht, doch ist auch der eher persönliche Blickwinkel, der durch die Autorin, die Konzertsängerin Ruth Frenk, auf dieses Kapitel der Geschichte geworfen wird, durchaus lohnend. Auch in den Beiträgen von Leo Treitler (Max Raabe) und Doron Rabinovici (Acollective) hätten die faszinierenden Fragestellungen – etwa die Unterschiede in der Erinnerungskultur in Deutschland und Israel bzw. der Umgang mit der jüdischen Identität – ausführlicher ausgearbeitet werden können. Als beispielhaft kann in diesem Zusammenhang der Essay von Motti Regev über israelischen Pop-Rock, insbesondere über den Einsatz der E-Gitarre in den letzten Jahrzehnten gewertet werden. Der Autor beschreibt nachvollziehbar, wie die traditionell verwendete Bouzouki-Gitarre allmählich von der E-Gitarre verdrängt wurde und die Stilistik der westlichen Popmusik in die lokale Musik einfloss.
Und hier ist sie wieder, die Verschränkung als Beschreibung eines Zustands, in dem – wie Oren Roman und Susanne Zepp den Literaturwissenschaftler Dan Miron zitieren – die „Vorstellung einer zur Einheit, zur Einheitlichkeit verpflichteten jüdischen“ Kultur von einem „Kaleidoskop jüdischer“ Kultur (S. 251) abgelöst wird. Es ist ein faszinierendes Kaleidoskop, das der Jüdische Almanach Musik präsentiert. Ein wertvoller Schatz jüdischer Tradition, der sich stilistisch, geistig und regional weiterentwickelt und verschränkt mit den Möglichkeiten, die sich der „diasporischen Vielfalt der Juden“ überall auf der Welt bietet.
Michael Stapper
München, 19.12.2016