Baur, Eva Gesine: Chopin oder die Sehnsucht. Eine Biographie. – München: Beck, 2009. – 563 S.: 27 Abb.
ISBN 978-3-406-59056-6 : € 24,90 (geb.)
„Hut ab, ihr Herren, ein Genie“, befand Robert Schumann 1831 in der Neuen Zeitschrift für Musik, Franz Liszt schätzte ihn, er beeinflußte Skrjabin und Messiaen, seine Wirkung auf Balzac oder Delacroix ist unbestritten, und doch ist bis heute die allgemeine Wahrnehmung eher ambivalent. „Als Virtuose der eleganten Salons, der intimen Gesellschaft“ (Berlioz), als „Komponist der süßen Abgründe“ (Heine) und ewig kränklicher Misanthrop, der „gar so anmutig hustet“ (George Sand), bot Frédéric Chopin (1810–1846) das ideale Abbild eines launischen Künstlers, der gefällige Musik verfaßte, als eitler Ästhet den Luxus liebte und ansonsten für diese Welt zu sensibel war. Und doch gehört sein Klavierwerk zu den kompositorisch herausragenden Leistungen des 19. Jahrhunderts. Eva Gesine Baur, die als Literatur- und Musikwissenschaftlerin bereits aus verschiedenen Perspektiven zahlreiche kulturhistorische Themen aufgegriffen hat (sie verantwortet einen Teil der Zu Gast bei …-Bücher des Heyne-Verlages und schreibt unter dem Pseudonym Lea Singer Romane), hat sich dem Sujet auf literarische Weise genähert. Ihr Verdienst liegt in der unsentimentalen Darstellung eines Komponistenlebens, das, so kurz es auch währte, geographisch, politisch und künstlerisch von enormer Reichweite war. Detaillierte Werkbetrachtungen spielen dabei keine besondere Rolle, deshalb dürfte der Autorin auch ein größerer Leserkreis garantiert sein. Sie schildert Herkunft, Lehrer und Freundeskreis, Chopins Konzertreisen und bettet alles in den kulturhistorischen und politischen Rahmen ein, innerhalb dessen sich der Protagonist bewegte. Mit ironischer Distanz schildert sie sein Milieu, die Salons der Aristokratie in Warschau, Wien oder Paris (wo es allein über 800 davon gab), wobei sie Briefzitate kursiv gedruckt in den Text einfließen läßt und so den Eindruck der indirekten Rede erweckt. „Falls Moscheles in Paris ist, so laß ihm ein Klistier aus Neukomms Oratorien, angerichtet mit Berlioz’ Cellini und Döhlers [ein Haydn-Schüler] Konzert, verabreichen. Er wird dann gewiß auf den Locus gehen und irgendeinen Valentin daraus machen. Ein wilder Gedanke, doch du mußt zugeben, daß er originell ist“, schrieb Chopin an einen Freund. Er konnte witzig und ironisch sein und lästerte kräftig über seine Zeitgenossen, vermeintliche und echte Künstlerkollegen wie Kalkbrenner, Pixis, Field oder Berlioz oder habgierige Verleger und Klavierbauer. Den Salons konnte sich Chopin nicht entziehen, da er finanziell auf sie angewiesen war und durch seine Publikationen allein nicht seinen aufwendigen Lebensstil finanzieren konnte. Der Autorin gelingt es hierbei, die Schichten aus Sentimentalität, Luxus und Morbidität, die das Chopin-Bild überlagern, abzutragen und auf anspruchsvolle und unterhaltsame Weise zu informieren.
Claudia Niebel
Zuerst veröffentlicht in FM 31 (2010), S. 168ff.