Härtling, Peter: Verdi. Ein Roman in neun Fantasien. – 2. Auflage. – Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2015. – 211 S.
ISBN 978-3-462-04808-7 : € 16,99 (geb.; auch als E-book)
Künstlerromane sind als Unterkategorie dem klassischen Bildungsroman zuzurechnen und haben ihren Ursprung im 19. Jahrhundert in der deutschen Frühromantik. Herausragend ist hier – im Sub-Genre des Musikerromans bzw. der Musikernovelle – E. T. A. Hoffmanns Ritter Gluck zu nennen, weitere – teils romantisch stark verzerrte – Komponistenbilder wie beispielsweise Albert Emil Brachvogels Friedemann Bach sind in der Folgezeit entstanden. Für literarisch anspruchsvolle Musikerromane stehen in neuerer Zeit Dieter Kühn, Lea Singer (= Eva Gesine Baur), Rosemarie Marschner und Peter Härtling. Verdi selbst war als Romanfigur schon Gegenstand der Betrachtung durch Franz Werfel Verdi – Roman der Oper (der mit der Dichotomie der „erfabelten Welt und der in der Welt erforschbaren Wirklichkeit“ noch hadert) oder durch die bereits oben angeführte Lea Singer Verdis letzte Versuchung, die die Dreiecksgeschichte Verdi – Gattin – Hausfreundin betrachtet. Interessanterweise haben sich die beiden letztgenannten dem alternden Verdi genähert wie dies Peter Härtling in seinem neuesten Werk ebenfalls unternimmt. Der Autor begleitet seinen Protagonisten in neun Kapiteln, die er Fantasien nennt und mit gängigen Vortragsbezeichnungen versehen hat. Verdi selbst hat keine Fantasien komponiert – wie Härtling ausführt, bedient er sich als Autor dieser Form, um seine Intention, sich als fantasierender Romancier die Gedankenwelt des Komponisten zu imaginieren, zu unterstreichen. Marianne Betz schreibt im Handwörterbuch der musikalischen Terminologie (2001, Fantasie, S. 24f.) sinngemäß der Fantasie im 19. Jahrhundert die Eigenschaft des Vagen oder Ungefähren zu, das spezifische Struktur-Konzepte aufgibt zugunsten einer unschematischen Aneinanderreihung von gedanklich Vorgestelltem. Härtling hat sich diese Auffassung – so darf man annehmen – zugleich formal und inhaltlich zu eigen gemacht und kongenial und auf für Leser beglückende Weise in einen Roman gegossen. Der alternde Verdi und der alternde Dichter (wenngleich die beiden hierbei 20 Jahre trennen: Verdi ist am Beginn des Romans Ende 50 und Härtling über 80 Jahre alt, sie nähern sich gegen Ende des Romans naturgemäß an) – das ist ein Anverwandeln auf literarischen Niveau, vermeintlich leichtfüßig daherkommend, elegant formuliert, süffig zu lesen und mit feinem Gespür für Stimmungen, Befindlichkeiten, Zwischentöne und ohne dabei an Tiefe einzubüßen. Härtlings (oder Verdis?) imaginierte Gedankenwelt synchronisiert sich mit einzelnen Aspekten, Ereignissen oder Begegnungen aus dem Leben des Komponisten, das sich im Wesentlichen zwischen seinem Landgut Sant’ Agata, seinem traditionellen Winterquartier in einem Genueser Hotel und Mailand, dem Sitz seines Verlages Ricordi und des später entstandenen Altersheims für Musiker, der Casa di Riposi dei Musici, abspielt. Härtling gelingt es dabei überzeugend, Gefühle, Gespräche und Handlungen authentisch erscheinen zu lassen. Hießen die Kapitelüberschriften nicht beispielsweise Accelerando a cappriccio, Allegretto, Parlante oder Appassionato hätte man das Gefühl, man läse in einem Tagebuch, auch wenn Härtling nicht als Ich-Erzähler agiert. Er scheint den richtigen Ton zu treffen, die indirekte Rede betont dabei das Vage, Ungefähre, das die Fantasie (s.o.) charakterisiert. Der Autor bleibt trotzdem Herr dieses kompositorischen Verfahrens, indem er den Leser durch kurze, in den Text eingefügte oder daran angehängte eigene Reflexionen in die Gegenwart zurückversetzt.
Die Romanhandlung setzt mit dem Erfolg der Aida 1871 ein. Anknüpfungspunkte einer jeden Fantasie sind reale Ereignisse im Leben des Komponisten, zumeist die Entstehung neuer Werke wie des Streichquartetts, des Requiems, der Opern Otello und Falstaff, Reisen zu Aufführungen oder Proben, besondere Begegnungen mit weitreichenden Auswirkungen wie die mit den Verlegern Tito und Giulio Ricordi oder seinem letzten Librettisten Arrigo Boito, der ihn als Komponist der er ja auch war, maßgeblich inspirierte.
Eine zentrale Rolle nimmt die Ménage à trois ein, die Verdi seiner Gattin Giuseppina zumutete, indem er die erfolgreiche Interpretin vieler Aida-Aufführungen, Teresa Stolz, in sein Haus und als Herzensdame auch in seine Ehe aufnahm. Dem alternden Dichter, der sich in den alternden Musiker hineinversetzt, gelingt dabei die Gratwanderung zwischen der Vermutung, was Verdi dazu antrieb, der vermeintlichen Tatsache und der letztlich doch nicht bewiesenen Untreue mit allen möglichen emotionalen Folgen für die Beteiligten. Behutsam thematisiert wird der Konflikt mit dem deutschen Tonsetzer Richard Wagner, wobei Verdi im Roman einen wichtigen Satz prägt, nämlich den, dass allein die Musik Recht habe und nicht die Person des musikalischen Schöpfers. Auch hier zieht Härtling die Parallele zu seinem Roman, der nicht Authentizität für sich in Anspruch nimmt, sondern dem Leser das Urteil zuweist. Atmosphärisch beschrieben werden die Begegnungen mit dem jungen Arturo Toscanini, der als Cellist so manche Aufführung Verdi’scher Werke mitgestaltete und in späteren Jahren als Dirigent von Weltruf reüssierte. Projekte wie Bau und Finanzierung eines Krankenhauses in der Nähe seines Landsitzes und der Bau des Musikeraltersheimes erscheinen dem Leser vor dem Hintergrund von Verdis Empathie und Zugewandtsein als logische Folgen seines Altruismus, der vermutlich in seiner schlichten Herkunft begründet war. Politische Aktivitäten Verdis streift Härtling nur am Rande, seine Rolle in Italien während der Zeit des Risorgimento nimmt nur insofern Raum ein, als Verdi durch nicht absehbare Entwicklungen und den Tod des Freiheitsdichters Manzoni in eine tiefe Sinnkrise stürzt.
Härtlings Verdi-Roman ist eine mögliche, nichts desto trotz plausible Deutung des notorisch verschwiegenen Einzelgängers, eine Verdichtung seiner letzten 30 Lebensjahre, die 1901 mit dem Tod und einem 200.000 Menschen umfassenden, bewegenden Leichenzug enden. Von Verdi, der auch mit schriftlichen Hinterlassenschaften geizte (nur die Musik hat Recht), ist ein Satz verbrieft, den sich Härtling selbst als Leitmotiv verordnet hat, nämlich Die Wahrheit zu kopieren kann etwas Gutes sein, sie zu erfinden ist besser, weit besser. In diesem Sinn hätte Verdi sein Alter ego sicher wiedererkannt.
Claudia Niebel
Stuttgart, 27.11.2015