Wolfgang-Andreas Schultz: Avantgarde, Trauma, Spiritualität. Vorstudien zu einer neuen Musikästhetik / Hrsg. von Tim Steinke. – Mainz: Schott, 2014. – 130 S.
ISBN 978-3-7957-0853-5 : € 19,95 (Pb.; auch als e-book)
Trauma, Avantgarde, Spiritualität heißt das Buch auf dem Innentitel, Avantgarde, Trauma, Spiritualität auf dem Umschlag. Wo liegt der Unterschied?
Der Innentitel bildet die Kernthese des Verfassers ab: Die Musik nach 1918 und 1945 reagiere auf das Trauma der Weltkriege durch gefühlsmäßige Verarmung; solche zu lösen vermöge erst ein spirituell gewandelter Zugang zu Musik, Mensch, Welt und Zeit. Im modifiziert betitelten gesamten Buch ist das Themenspektrum jedoch weitaus reichhaltiger: Im Zentrum steht ein musikalisches Avantgardeverständnis, das bei Debussy, Richard Strauss, ja sogar bei Schuberts Winterreise ansetzt, „Ligeti und das unvollendete Projekt der Postmoderne“ integriert, „Klangkomposition – Zwischen Naturlaut und Vision“ umfasst und sich „In banger Erwartung eines Paradigmenwechsels“ den Bereichen „Musik und Spiritualität“ und „Weltzugewandte Mystik“ öffnet (so die Überschriften ausgewählter Kapitel).
Für einen solchen polymorphen und dezent bilderstürmerischen Zugang ist der Komponist Wolfgang-Andreas Schultz (in Hamburg einst Assistenz von György Ligeti und Professor für Komposition und Musiktheorie) bestens geeignet. Wenn er den Spannungsbogen zwischen Kompositionshandwerk und polemischen Frontenverhärtungen der aktuellen Musik kritisch auslotet, scheinen Ligetis Weite des Denkens und dessen wache Neugier abgefärbt zu haben. Folglich sind die Kapitel zu Ligeti (von denen „Ligeti als Lehrer“ mit gleichem Recht als Abriss zu „Schultz als Musikdenker“ gelesen werden kann) von speziellem Interesse. Doch auch Schultz‘ Thesen zu „Avantgarde und Trauma“ (bei denen offen bleibt, ob Komponisten, Hörer oder Musik traumatisiert sind) verdienen es, kritisch wahrgenommen zu werden, da sie gängige Deutungsmuster überzeugend gegen den Strich bürsten. Dass ästhetische Postulate eher apodiktisch daherkommen, ist ein Verfahren, das man dem Komponisten Schultz nicht verübeln kann, da jeder Künstler in seinen Werken – und damit auch in seinen Schriften – Position beziehen muss. In seinem Mut zum Pointieren und damit zur Einseitigkeit wirkt Schultz zwar ebenso ausschließlich wie Vertreter anderer Narrative, aber das Erfreuliche an seinem Ansatz ist, dass die Musik selbst – auch ohne Notenbeispiele – auf eine klare Weise stets präsent bleibt. Die wenigen Worte zu den einzelnen Kompositionen, die Schultz als Beleg heranzieht, treffen den Kern der Sache und stützen nachvollziehbar, was der Verfasser darlegen will.
Noch aus einem weiteren Grund wird ein Beobachter der aktuellen Musikszene Gewinn aus der Aufsatzsammlung ziehen. Denn in Schultz‘ Vorstudien zu einer neuen Musikästhetik kann man das Adjektiv „neu“ getrost in doppeltem Sinne interpretieren: Schultz entwirft eine Ästhetik der neuen (Neuen, modernen, aktuellen, avantgardistischen …) Musik im weitesten Sinne, also von Musik, die mit dem Anspruch des Innovativen verknüpft ist. Zugleich entsteht eine neue Ästhetik des Komponierens. Schultz‘ Hinweis, er hätte „statt einer Sammlung von Aufsätzen“ (die überwiegend bereits publiziert sind) lieber „ein durchgeschriebenes Buch vorgelegt“, die Überlegungen seien jedoch „noch zu sehr im Fluss“ (S. 5), verschweigt, dass ein solches fragmentiertes Erscheinungsbild durchaus dem Gegenstand entspricht: Auch die Musik des 20. und bisherigen 21. Jh. ist ja eher ein Konglomerat individueller Äußerungsformen denn ein geschlossenes Ganzes – allen Schulbildungen (Neue Wiener Schule, Darmstädter Schule …) zum Trotz. In diesem Heterogenen „Bruchstücke einer großen Konfession“ zu entdecken und so darzustellen, dass bislang unvertraute Blickweisen sichtbar werden, ist der Vorzug dieser Schrift.
Kadja Grönke
Oldenburg, 15.08.2015