Klotz, Volker: Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst. – Erw. und aktual. Auflage. – Kassel: Bärenreiter, 2004. – 869 S. : zahlr. Abb. und Notenbeisp.
ISBN 3-7618-1596-4 : € 64,00 (geb.)
Spielpläne und Regiearbeiten des populären Musiktheaters profitieren seit 1991 von den Wirkungen einer belebenden Frischzellenkur. Die publizistische Injektion stammt aus der Feder des Literaturwissenschaftlers Volker Klotz und verhalf unter dem sinnreich-provokativen Titel Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst einem bis dato – und auch nach wie vor – verkannten, oft vorurteilsvoll abqualifizierten Bühnengenre zu neuen Vitalitätsschüben. In erklärter Distanz zu deduktiven Prinzipien gängiger „Operettenführer“ und „-geschichten“, strebte das zuerst bei Piper erschienene Klotzsche Großprojekt von Anbeginn in die Gegenrichtung: Unbekanntes, Verkanntes und Ungeahntes bekannt zu machen, Hergebrachtes unter neuem Blickwinkel zu vermitteln, angebliche „Machwerke mieser Kulturindustrie“ (nach Adorno, hier S. 838) als seriöse Kunstwerke in ihrer Eigenart und allen exegetisch relevanten Facetten zu interpretieren und – so das Primärziel – eine praktische Anleitung für Theater- und Medienverantwortliche zu liefern, sprich: den eingefahrenen Status quo einer kraftlosen und halbherzigen Operettenroutine zu sprengen. Zur durchgesehenen Ausgabe von 1997 dann zog der Stuttgarter Universitätsprofessor eine positive Zwischenbilanz: breite Zustimmung seitens Fachpresse und Leserschaft, erfolgreiche Reanimierung einiger protegierter Werke zu einer musikalisch und szenisch originellen Bühnenpräsenz.
Für die im September 2004 bei Bärenreiter erschienene erweiterte und aktualisierte Auflage nun bekennt sich Klotz abermals zu seinem methodischen Optimum: der zweiteiligen Grundkonstruktion mit den Sektionen „Porträt“ und „Handbuch“. Ersteres, bis auf sprachliche und formale Details weitgehend unverändert, geht kursorisch auf durchgängige Eigenschaften der Gattung Operette ein. In hochdifferenzierter Kontextualisierung und Beispielanalyse erstehen hier idiomatische Genre-Phänomene in ihrem mehrschichtigen funktionellen Eigenwert und komplexen Beziehungsreichtum: Musterbeispiel „Offenbachiade“, Vox populi, zeitlich-historische Eskapaden, Exotismus, stilisierte Gegenwart, Art und Wirkung von Komik, Travestie, Tanzdramaturgie, spanische Sonderform Zarzuela. Nach diesen durchgängigen befasst Teil II sich dann mit den besonderen Eigenschaften. Alphabetisch nach Komponistennamen sortiert, skizzieren die Einzelkapitel Leben, Werk und Bedeutung des jeweiligen Meisters, wenden sich dann dessen exemplarischen, eben den von Klotz favorisierten Einzelwerken zu. Neben Textautoren, Uraufführung und Personen informieren weitere praktische Angaben über die originale Orchesterbesetzung sowie Autographe und Ausgaben. Oft bereits interpretierend und reflektierend folgt der Handlungsablauf, zentral sodann ein Kommentar mit Klärung der oft brisanten stilistischen Stellung und gründlicher Analyse der musikalisch-szenischen Dramaturgie von Einzelnummern sowie übergreifenden binnendramaturgischen Verlaufskurven. Um 21 Opera aus dem Schaffen von 17 Komponisten auf nunmehr 127 Werkanalysen bereichert, ist Teil II der eigentlich erweiterte Teil des Bandes.
Auswahlkriterium, Messlatte sowie Bezugs- und Reibungspunkt für alle 127 Exempel ist der von Klotz idealisierte Archetyp einer authentischen und unverfälschten Operette: die „Offenbachiade“ (paradigmatisch: La Grande-Duchesse de Gérolstein, La belle Hélène). Deren Charakteristika durchziehen als leitmotivische Klammern in vielerlei rhetorischen Varianten die Befunde von Teil I: anarchisches Potenzial, rebellische Impulse, Umkehrung bzw. „Inversion“ der gängigen Machtverhältnisse im bürgerlich-reaktionären System, Selbstbehauptung der kollektiven Volksseele, (Selbst)ironie und – immer wieder – Opponieren gegen Druck und Zwänge des grauen Alltags. Trotz fallweise anerkannter kompositorischer Qualitäten trifft des Autors Verdikt dagegen jene „Abwege der Gattung“ (S. 37), die wie Johann Strauß‘ Zigeunerbaron „einer gottes- und kaisergnadentümlichen Welt aufspiel[en] und (…) klangfroh ihre gängigen patriotisch-patriarchalisch-paternalistischen Werte besing[en]“. In diesem Sinne macht der Autor keinen Hehl aus persönlichen Vorlieben und Abneigungen und steht – trotz konzedierter Anfechtbarkeit – konsequent zu der getroffenen Auswahl.
Seinem Credo getreu fügt Klotz der internationalen und entdeckungsfreudigen Palette seines Handbuchteils (Schwerpunkte mit Werkauswahl u.a. von Benatzky, Fall, Kálmán, Künneke, Lehár, Offenbach, Oscar Straus, Johann Strauß, Sullivan; daneben Abraham, Dostal, Goetze, Heuberger, Millöcker, Suppé, Zeller, Zarzuela-Granden und diverse Franzosen; weitere Trouvaillen auch aus Italien, Ungarn oder Jugoslawien) in der Neuauflage etwa die unterschätzten Deutschsprachigen Genée, Dellinger und Granichstaedten mit je einem Werk hinzu, nimmt weitere Zarzuela-Meister unter die Lupe, macht bekannt mit Srecko Albini oder Albert Szirmai und stockt die Kapitel zu Nedbal und Oscar Straus um anregende Titel auf. Entfallen ist die 1991er Auswahl-Bibliographie. Ergänzende „Vorschläge für Spielpläne“ wurden dem neuen Kenntnisstand des Autors angeglichen. Als Quelle und Fundgrube primär für seine Widmungsträger, eben die mit Operette befassten Theaterpraktiker jeglicher Couleur, dürfte Klotz‘ Handbuch bis auf weiteres das in seiner Art konkurrenzlose Opus summum bleiben. Über seine virtuose Forumulierungsgabe, seine ingeniöse Sprachbeherrschung, den überbordenden Reichtum sprachartistischer Wendungen und raffinierter Pointen weitere Worte zu verlieren, hieße Eulen nach Athen tragen.
Andreas Vollberg
Zuerst veröffentlicht in FM 25 (2004), S. 480f.