Kelly, Thomas Forrest: Alte Musik / Aus d. Amerik. von Herbert Geisen – Ditzingen: Reclam, 2014. – 180 S.
ISBN 978-3-15-019173-6 : € 8,00 (kt.)
Vermutlich war es keine gute Idee, das populär gehaltene und für ein US-amerikanisches oder weitergehend anglo-amerikanisches Publikum bestimmte Büchlein eines Harvard-Professors über diejenige alte Musik, die von der von ihm so genannten Alte-Musik-Bewegung abgedeckt wird, einfach ins Deutsche zu übersetzen, ohne es um korrigierende und erweiternde Hinweise auf europäische und speziell deutsche Verhältnisse zu ergänzen. Zudem ist es von einem Anglisten übersetzt, dessen Kenntnisse in den Feinheiten der deutschen musikalischen Terminologie nicht allzu groß und sicher zu sein scheinen. Kellys Buch aus dem Jahr 2011 (im amerikanischen Original Early Music - A Very Short Introduction) handelt von alter Musik mit dem großen A, also von einer in einem langwährenden Prozess wieder aufführbar und verständlich gemachten Musik, die der Autor mit den Epochen Mittelalter, Renaissance und Barock verbindet. Musik aus diesen musikgeschichtlich konstruierten Epochen hat es in Amerika ursprünglich so gut wie nicht gegeben, sondern musste erst nach der englischen, französischen und iberischen Kolonisation des Kontinents importiert werden. Kelly redet also über alteuropäische Musik eines Jahrhunderte währenden Zeitabschnitts, noch bevor der eroberte „neue“ Kontinent auch musikalisch im Sinne der europäischen Eroberer kultiviert wurde. Welche Rolle dabei die Kirchenmusik christlicher Missionare spielte, wissen wir. Dass die musikalischen Idiome der ausgerotteten amerikanischen Ureinwohner nicht von den einwandernden „Pionieren“, sondern von späteren Besuchern wie Dvořák und Busoni erinnert und verarbeitet wurden, wissen wir auch. Die Art, wie sich spätere Generationen der Einwanderer aus Europa bis heute die Musik früherer Epochen ihrer europäischen Vorfahren aneigneten und sie versuchten wiederzubeleben, ist ein spezifisch amerikanisches Phänomen. Es wird von Kelly auch so erzählt, allerdings mit dem Anspruch, als hätte es weltweit maßgebliche Bedeutung.
Diese Entwicklung ist aber einerseits ein bloßer Reflex dessen, was im 19. Jahrhundert in Europa begann und dann ganz eigene Ausprägungen in Amerika erfuhr. Darüber müsste für ein amerikanisches Publikum präziser berichtet werden. Andererseits ist sie eine völlig eigenständige Entwicklung, die darauf beruht, dass Amerikaner, die „Alte Musik“ spielen, eigentlich Musik eines anderen Kontinents spielen, mit dessen Traditionen sie nur indirekt, über Import und Wiederentdeckung verbunden sind. Diese spezifisch nordamerikanischen, mit Irrtümern und Eigenmächtigkeiten verbundenen Ausprägungen müssten einem nichtamerikanischen Leser besonders erläutert werden, Kelly tut aber so, als seien das weltweit ohne weiteres verständliche Erscheinungen.
Diese Konstellation mag den Hintergrund abgeben dafür, dass in Kellys Buch unzählige Fehler und Ungenauigkeiten wimmeln und dass es bei einem unbedarften und unbefangenen europäischen Leser, der sich vielleicht erstmals orientieren möchte, eher Verwirrung oder Vorurteile stiften könnte. In Wirklichkeit ist die mindestens kulturkritisch, wenn nicht kulturrevolutionär gestimmte „Alte-Musik-Bewegung“ eine traditionsbewusste, in einem nicht reaktionären Sinn konservative (Altes bewahrende und wiederbelebende) Strömung in der Aufführungspraxis, die sich der Unterwerfung und Standardisierung älterer Musik nach den ästhetischen Prämissen einer jeweiligen Moderne (hieße sie nun Klassik oder Romantik oder eben Moderne) sträubt. Eine solche aufführungspraktische Gegenbewegung gegen die Hauptrichtung der normierten, immer eindimensionaler werdenden bürgerlichen Musikkultur gab es bereits seit dem Beginn der Hegemonie der sinfonischen Instrumentalmusik in gleichtemperierter Stimmung und dem Verlust des Singens und Spielens in alten Stimmungen und alten Vortrags- und Ausdrucksformen, die der Musik früherer Jahrhunderte angemessen wären. Ein aufklärerisches Buch über alte Musik hätte eigentlich die Aufgabe, auf die historischen Wurzeln und Entwicklungen dieser ununterbrochenen Strömung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hinzuweisen. Kelly versucht dies auch, spricht gleich an zwei verschiedenen Stellen von den historischen Aufbrüchen in Europa, beschränkt sich aber auf allzu wenige Erscheinungen.
Er weiß nichts von dem kulturellen Widerstand gegen die Fortschrittsgläubigkeit der neudeutschen Schule, der sich in Serien so genannter Historischer Konzerte niederschlug, um den totalitären Herrschaftsanspruch der damaligen Avantgarde, die alle früheren Perioden bloß entweder als Vorläufer oder als zu überwindende Gegenpole ihrer eigenen Richtung ansah, zurückzudrängen. Der Grundgedanke dieses Widerstands, den manche auch Historismus nennen, ist, sich dem Eigensinn der Vergangenheit anzupassen und den Eigenwert ihrer Schöpfungen aus dem Geist vergangener Zeiten zu respektieren, ohne ihn sich für die Gegenwart zurechtzubiegen.
Sicher war mit der Restitution der Vergangenheit eine mythische Verehrung Palestrinas verbunden. Aber erstens nicht nur bei den katholischen Cäcilianisten in Regensburg; sondern auch bei dem einflussreichen Kreis um Justus Thibaut in Heidelberg und bei der eher protestantisch orientierten Berliner Richtung um Eduard Grell. Zweitens sind von letzterem auch Aufführungen älterer Werke auf der originalen Stimmtonhöhe und mit altem Instrumentarium bekannt sowie Gesangsübungen in alten Stimmungen. Weil Kelly den Widerstand gegen die technikgestützte Normierung und Modernisierung der Instrumente zugunsten eines in allen Tonarten gleichartig spielen könnenden bürgerlich-sinfonischen Ensembles nicht als eine entscheidende Quelle der Wiederbelebung resp. der Verteidigung des Eigencharakters älterer Musik erkennen kann, fällt auch seine Darstellung aller Fragen, die mit der Stimmtonhöhe und den Stimmungen zusammenhängen, relativ konfus und ziellos aus. Die früher zahlreichen unterschiedlichen diatonischen Tongeschlechter (von denen nur das Dur- und das Mollgeschlecht übrig geblieben sind) und deren durch die gleichschwebende Temperatur verloren gegangenen Charakteristika im Klang, sind Kelly nicht einmal eine Erwähnung wert. In ihnen wäre aber das eigentlich Fremdartige oder Exotische der alten Musik vor dem Sieg der Dur-/Moll-Tonalität und der wohltemperierten Stimmung zu erblicken.
Abgesehen davon, dass eine undogmatische Behandlung alter Musik sicherlich davon ausgehen würde, dass beispielweise die langsam über 100 Jahre alte atonale Musik Schönbergs auch alte Musik ist (quasi gealterte ehemals neue Musik), bleibt nicht nur die Beschränkung auf eine Zeitspanne vom 9. bis 18. Jahrhundert für die Definition von Alter Musik fragwürdig, sondern auch die Behauptung, der Gregorianische Gesang sei das erste historische Dokument abendländischer Musik. Hierbei bleibt nicht nur mühselige Rekonstruktion altgriechischer Musik unberücksichtigt, sondern auch die Tatsache, dass der Reform des liturgischen Gesangs der christlichen Kirche Europas durch Papst Gregor I. Jahrhunderte vielfältiger kirchlicher und weltlicher Vokal- und Instrumentalmusik vorausgingen und folgten, über deren Form und Struktur wir zwar relativ wenig sagen können, deren Abweichungen von der Gregorianischen Normierung (zum Beispiel in Gestalt chromatischer Tonverschiebungen) aber durchaus kenntlich zu machen sind. Um nur beim Mittelalter zu bleiben: Seltsam berührt auch Kellys Behauptung, die frühen mehrstimmigen Gesänge (Organa, Tropen und Motetten) sowie die Gesänge der Trobadors und der Minnesänger seien in der gleichen unrhythmisierten Notenschrift notiert worden. Für den Fall, dass hier die nicht genannte Neumenschrift gemeint sein sollte, muss aber doch darauf hingewiesen werden, dass im Rahmen der frühen Mehrstimmigkeit eine mensurierte Notenschrift erfunden wurde, deren Interpretation allerdings bis heute umstritten ist.
Aus den genannten und vielen weiteren Mängeln kann dieses Reclamheft nicht als eine auch noch so kurze oder oberflächliche Einführung in alte Musik akzeptiert werden, die gerade, wenn es um eine populäre und allgemeinverständliche Darstellung ginge, besonders akribisch und fehlerfrei sein sollte, weil auch ohne Einführungen schon genügend fragwürdige Meinungen herumschwirren. Um Popularität ist Kelly zwar u.a. auch durch saloppe Bemerkungen bemüht, das zugrundeliegende Fachwissen scheint aber der Materie nicht gerecht zu werden. Leider gibt es bis heute keine originär deutschsprachige Alternative zu diesem Heft.
Peter Sühring
Berlin, 05.07.2015