Gerhaher, Christian: „Halb Worte sind’s, halb Melodie“. Gespräche mit Vera Baur. – Leipzig: Henschel, 2015. – 171 S.: Abb.
ISBN 978-3-89487-942-6 : € 22,95 (geb.)
Der Bariton Christian Gerhaher, seit einigen Jahren sowohl als Lied-und Konzertsänger erfolgreich, als auch in Opernpartien zunehmend gefragt, gilt vom Beginn seiner Karriere an als der große Intellektuelle unter den Gesangsstars unserer Zeit.
So verwundert es nicht, dass der vorliegende schmale Band keine Künstlerbiographie im eigentlichen Sinne ist. Entstanden ist das Buch auf der Basis intensiver Gespräche mit der Journalistin Vera Baur, eine immer häufiger angewandte Technik, um vielbeschäftigten Prominenten das eigenständige Schreiben zu ersparen, bzw. die Inhalte von professioneller Hand aufbereiten zu lassen. Ein wenig nimmt dieses Vorgehen dem Endprodukt aber auch viel von seiner angestrebten Authentizität. Obwohl sicherlich vom Porträtierten redigiert und abgesegnet, hat es letztlich doch etwas von einer schriftlich festgehaltenen Talkshow. Natürlich ist viel über den Privatmann Gerhaher zu erfahren, unter den zahlreichen Fotos finden sich auch Aufnahmen aus der Kindheit und Jugend des Sängers. Dagegen wird auf alles verzichtet, was man als gefällige Home-Story bezeichnen könnte. Den Schwerpunkt bilden Einlassungen Gerhahers über verschiedene Komponisten. Hier spricht jemand aus der sängerischen Praxis und hat viel an reflektierten Inhalten zu bieten.
Gerhaher, der vor seiner Entscheidung für den Beruf des Sängers Philosophie und Medizin studierte und ausgebildeter Arzt ist, hat naturgemäß ein weites intellektuelles Spektrum. Er hat keine Scheu, sich auch über sehr komplexe Themen, wie die Eventkultur, den aktuellen medialen Klassikbetrieb und die öffentliche Förderung von Musik und Musikern zu äußern. Sehr ausführlich widmet sich der Sänger seiner besonderen Vorliebe für den Komponisten Schumann, er zieht interessante Vergleiche zwischen dessen und Franz Schuberts Liedschaffen. Gustav Mahler wird ebenfalls umfangreich gewürdigt und analysiert. Seine Opernpartien werden ausführlich behandelt, besonders der Wolfram in Wagners Tannhäuser, seine erfolgreichste und wohl auch bevorzugte Bühnenrolle. Über Gesang allgemein und das Leben als Sänger weiß Gerhaher viel zu sagen, er widmet sich außerdem ausführlich dem Verhältnis von Text und Musik. Auch über Stimmphysiologie, Technik und Ausbildung kann man viel erfahren.
Gerhaher äußert sich ebenfalls ausführlich über Dirigenten, wobei er naturgemäß den Focus auf die ihm in der Zusammenarbeit besonders angenehmen Pultstars wie Herbert Blomstedt, Kent Nagano, Simon Rattle, Christian Thielemann und Daniel Harding legt. Ausführlich wird das auf eine Jugendfreundschaft zurückgehende enge Verhältnis zu seinem exklusiven Klavierbegleiter Gerold Huber behandelt.
Insgesamt keine leichte Lektüre, scheint es doch kaum ein musikalisches Thema zu geben, zu dem Gerhaher nichts zu sagen wüsste. Es empfiehlt sich, das Buch in kleiner Dosierung aufzunehmen, der scharfe Intellekt des Sängers kann zeitweise etwas anstrengend wirken. Was bedauerlicherweise fehlt, ist ein Personen- und Sachregister, das bei der Komplexität des Behandelten hilfreich wäre.
Sicherlich ungeeignet ist das Buch für die Liebhaber polierter Starporträts und seichter Homestories. Aber wer Gerhaher schätzt, würde so etwas von ihm auch nicht ernsthaft erwarten.
Peter Sommeregger
Berlin, 02.06.2015