Joachim Stutschewsky: Der Wilnaer Balebessel und andere Texte und Briefe aus dem Nachlass / Hrsg. von Silja Haller [u.a.]. Mit einer Einleitung von Jascha Nemtsov – Wiesbaden: Harrasowitz, 2013. – 151 S.: Abb., Notenbsp. (Jüdische Musik ; 13)
ISBN 978-3-447-10043-4 : € 24,80 (kt.)
Joachim Stutschewsky (1891‑1982) war ein Mensch mindestens dreier Welten: der ostjüdischen vom Schwarzen Meer, in die er um 1900 hineingeboren wurde und in der er seine ersten musikalischen Erfahrungen als Sohn eine ostukrainischen Klezmer-Musikers machte, sodann der mitteleuropäischen Welt der höheren Tonkunst als Violoncellist und Komponist und letztlich der Welt, in die er floh und die ihm zu seiner eigentlichen Heimat wurde: der orientalischen, neujüdischen Musikkultur von Erez Palästina/Israel. Er fand diesen Weg konsequent, wenn er ihn auch letztlich nicht glücklich machte, weil ihm in Israel die erhoffte Anerkennung versagt blieb. So müssen heute mühsam aus seinem in Tel Aviv liegenden Nachlass jene Schriften ediert werden, die er zu Lebzeiten als sein eigener Archivar gesammelt hatte. Jascha Nemtsov hat sich zusammen mit Silja Haller, Antonina Klokova und Sophie Zimmer dieser editorischen Arbeit unterzogen und eine erste Sammlung von bisher unveröffentlichten Schriften und Briefen Stutschewskys posthum veröffentlicht.
Den Konflikt zwischen der genuin jüdischen Musik in den Synagogen Osteuropas und dem trügerischen Versprechen, in der christlichen Kultur der mitteleuropäischen bürgerlichen Gesellschaft zu arrivieren, hat Stutschewsky in einer 1958 in Tel Aviv niedergeschriebenen gleichnishaften Erzählung geschildert: In der Legende vom Wilnaer Balebessel, also dem jungverheirateten Oberkantor von Wilna, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts, angefeuert von dem gutmeinenden polnischen Komponisten Stanislaw Muniuszko, in der gehobenen Gesellschaft von Warschau sein Talent zu Markte tragen will, sich unglücklich verliebt und an der judenfeindlichen hartherzigen Abweisung der polnischen Oberschicht scheitert, aber auch nicht mehr in sein altes Milieu zurückfinden kann. Diese exemplarische Geschichte trägt durchaus Elemente einer autobiografischen Erzählung in sich, denn fast einhundert Jahre später durchlebt Stutschewsky selber ähnliche Konflikte. Zusammen mit Gregor Piatigorsky und Emanuel Feuermann ist er einer der Violoncello-Schüler von Julius Klengel in Leipzig und versucht, sich in Deutschland, der Schweiz und schließlich in Österreich als klassischer Ensemble-Musiker mit einem zusätzlichen Faible für die Musik der jüdischen Spielleute und für die Erneuerung jüdischer Musik im Rahmen der zionistischen Widerstandsbewegung zu etablieren.
Und so umfasst dieser Band Schriften und Dokumente von und über Stutschewsky aus vier Themenbereichen seines Lebens: der Zeit im Zentrum der Zweiten Wiener Schule um Arnold Schönberg, seiner Freundschaft mit Pablo Casals, seiner Arbeit über das Verhältnis russischer Musiker, speziell Modest Mussorgskis zu jüdischen Volksmelodien und jener Legende über Joel David Lewenstein (Straschunsky), den Wilnaer Oberkantor, genannt Balebessel. Zum ersten Mal können wir hier auch einen Blick ins Innenleben des Wiener Streichquartetts werfen. Aus der Sicht seines Violoncellisten Stutschewsky wollte der Primarius Rudolf Kolisch das gesamte Quartettspiel unter die Autoritätsprinzipien Schönbergs stellen, der bei den Proben ständig anwesend war. Dagegen regte sich der Widerstand Stutschewskys, und er ließ kurz nach der Uraufführung der Lyrischen Suite von Alban Berg zu Anfang des Jahres 1927 das Quartett platzen, das ohne ihn dann als Kolisch-Quartett weiter spielte.
Briefe zwischen Kolisch und Stutschewsky, von Schönberg an Stutschewsky sowie ein Auszug aus Stutschewskys unveröffentlichter Autobiografie Der Lebenspfad eines jüdischen Musikers. Ein Leben ohne Kompromisse geben eine Chronik und ein Psychogramm des Zerwürfnisses. Obwohl diese Periode im Leben Stutschewskys unmittelbar das meiste Interesse auf sich ziehen dürfte, zeugen auch die anderen drei Themenbereiche von der ernsthaften künstlerischen und auch musikhistorischen und ethnologischen Arbeit dieses heute in Europa und Israel vergessenen Musikers, der für die Rettung und Wiederbelebung jüdischer Musik in der Diaspora und in der neuen Heimat der Juden in Palästina vor und nach der Staatsgründung Israels Bedeutendes geleistet hatte.
(Inhaltsverzeichnis)
Peter Sühring
Berlin, 13.04.2015