Laubhold, Lars E.: Von Nikisch bis Norrington. Beethovens 5. Sinfonie auf Tonträger. Ein Beitrag zur Geschichte der musikalischen Interpretation im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. – München: edition text + kritik, 2014. – 649 S.: Ill., CD.
ISBN 978-3-86916-330-7 : € 69,00 (geb.)
Ab Seite 575 entschuldigt sich der Autor, nicht alle Aspekte der Interpretationsanalyse in seiner groß angelegten Monographie empirisch-systematisch berücksichtigt zu haben. Gut, da es sich um eine 2013 bei der Universität Salzburg eingereichte Dissertation handelt, mag man diese Selbstkritik positiv verbuchen; sie gehört gewissermaßen zum Genre. Doch ist sie eigentlich überflüssig, denn derartig seriös-systematisch, austarierend und umfassend ist bislang noch kein einziges Musikwerk mit seinen Interpretationen auf Tonträgern analysiert worden. Wir haben es hier wirklich mit einer in jeder Hinsicht vorbildlichen Publikation zu tun, die nicht überboten werden kann (auch nicht in herstellerischer Hinsicht). Vor allem beeindrucken die philologische Durchdringung der Untersuchungsobjekte, nämlich 135 Einspielungen der 5. Sinfonie Beethovens, und die ausdrückliche Reflektion über das methodische Vorgehen.
Laubhold hat seine Monographie in Abschnitte eingeteilt, die sich pauschalisierend auf zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen reduzieren lassen: Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit der Totale der (mehr oder weniger willkürlich, aber letztlich dann doch repräsentativ) ausgewählten 135 Aufnahmen hinsichtlich einzelner Gestaltungsparameter. Der zweite Abschnitt widmet sich, historisch betrachtet, ausgewählten Dirigenten und vergleicht deren Interpretationen mit Paralleleinspielungen. Und schließlich gibt es auch noch ein die Untersuchungen zusammenfassendes Kapitel.
Laubholds Studienobjekt ist so geschickt wie sinnvoll ausgewählt: Es gibt wohl keine zweite Komposition, die sich gleichermaßen umfassend als Fallstudie für den Wandel der Interpretationsstile im 20. Jahrhundert eignet wie Beethovens Fünfte. Trotz der Detailverliebtheit, die der Autor auf jeder Seite dokumentiert, ist das Buch über weite Strecken geradezu spannend zu lesen, was nicht zuletzt auf eine gute, klare Formulierungsgabe zurückgeht. Von Nikisch bis Norrington ist nur ein griffiger, geschickt mit der Alliteration operierender Buchtitel, um die Breite des Sujets schlagwortartig zu benennen. Natürlich beginnt Laubhold nicht bei Nikisch, sondern bei der wirklich ersten Einspielung der Fünften, die unter dem Kapellmeister Friedrich Kark bereits 1910 entstand. Und er endet nicht bei Norrington im Jahr 2002, sondern bei Daniel Harding 2011, einer Videoaufnahme (die er allerdings wie einen Tonträger analysiert). Und natürlich kann man sich fragen, ob angesichts der Fülle des Dargestellten der Leser überhaupt noch den Überblick behält. Schließlich lassen sich 649 Seiten nicht an einem Wochenende durchlesen, zumal sich Laubhold an den reflektierenden und mithörenden Leser wendet. Doch gilt diese Frage hinsichtlich einer Pauschalisierung letztlich jeder traditionellen Biographie. Insofern kann man mit gutem Grund bei dieser Arbeit von einer umfassenden Werkbiographie sprechen, die sich, methodisch durchaus korrekt, wenn auch damit die vielfältige ontologische Realität des musikalischen Werks nicht erfassend, auf Tondokumenten (und den Ton von einigen Videodokumenten) beschränkt. Doch es gibt auch kleinere Abschnitte, die über den Rand der Tonträger hinausschauen und Beethovens Fünfte im Musikleben behandeln, zumindest in Teilaspekten. Wenn Laubhold, immer sachlich und relativierend, pauschale Urteile von Musikkritikern und sich auf diesem Terrain bewegenden Musikwissenschaftlern empirisch korrigiert, zeigt sich die methodische Unvereinbarkeit einer empirischen Fallstudie mit der pauschalen, sich nicht konsequent auf festgelegte Parameter beschränkenden Bewertung aufgrund subjektiver, in ihrer Gesamtheit nicht vollziehbarer Hörerfahrungen durch den Kritiker. Wenngleich ich Laubhold hier eher vertraue, sind beide Urteile per se nicht gegeneinander auszuspielen. Doch auch Laubhold berührt zwangsläufig die hermeneutische Ebene der Musikkritik, wenn er einen „etwas behäbigen Grundcharakter“ einer Einspielung als „seriös“ charakterisiert. Immerhin erklärt er, was er darunter versteht. Sehr erhellend sind diesbezüglich die auf einer CD beigefügten Klangbeispiele, bei denen in 75 Tracks häufig zwei und mehr signifikante Ausschnitte zusammengeschnitten sind. Dazu gibt es prägnante Kommentare, die sich sinnvollerweise an Ort und Stelle innerhalb der Kapitel befinden, so dass man am besten das Buch an einem Ort liest, wo man auch die CD abspielen kann, um die Argumentationen bestmöglich nachvollziehen zu können.
Dankenswerterweise erschöpft Laubhold seine Analysen nicht in den vielfältigen Aspekten des Tempos. Es ist bewundernswert, wie genau er gerade auch Parameter der Interpretation berücksichtigt, an denen kein eigenständiges vergleichendes und sozusagen analoges Hören vorbeiführt, nämlich Fragen der Stimmenbalance und der Uminstrumentierung. Dies bringt natürlich ein prinzipielles methodisches Problem mit sich: Laubhold muss den Dirigenten nennen, wenn es um die Balance und damit um die Abmischung geht, die die Leistung des Tonmeisters ist (auch wenn der Dirigent die Vorgaben dazu macht). So setzt er stillschweigend voraus, dass die veröffentlichte Schallplatte die vom Dirigenten autorisierte Fassung enthält. Die Realität sieht in vielen Fällen – natürlich – anders aus. Und gerade bei Wiederveröffentlichungen (auf die Laubhold ausnahmslos zurückgegriffen hat) inzwischen historischer Aufnahmen ist die mehr oder weniger dezente Nachbearbeitung (Pseudostereo, Verhallung, Rauschfilter etc.) ein Faktor, der den Wunsch nach einer angewandten Wiedergabephilologie dringlich macht. Dies Problem wird durchaus von Laubhold erkannt, aber für mich nicht deutlich genug herausgearbeitet.
Natürlich kann man bei einer derartig umfangreichen, auf vielfältigen diversen Quellen basierenden Arbeit das eine oder andere Detail kritisieren. Mein größter Kritikpunkt ist der Umstand, dass Laubhold für seine Analyse der berühmten Nikisch-Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern von 1913 eine Überspielung verwendet hat, die von einem Label kommt, das für seine dubiosen Klang„verbesserungen“ bekannt geworden ist. Aber diese Kritik basiert auf Laubholds philologisch exakten Quellenangaben, ist also gleichzeitig ein Indikator für die wissenschaftliche Seriosität seiner Arbeit.
Wenn auch die Quintessenz dieser Studie keine grundlegenden Änderungen unserer Bewertungen von Dirigenten des 20. Jahrhunderts bewirkt, wenn also der Autor im wesentlichen das bereits bekannte bestätigt, in Einzelheiten relativiert und fallweise korrigiert, so lernt der Leser das Hören, und zwar das kritische Zuhören. Eine erfüllendere Wirkung kann ein Musikbuch eigentlich nicht haben.
Martin Elste
Berlin, 01.03.2015