Mauser, Siegfried: Mozarts Klaviersonaten. Ein musikalischer Werkführer – München: C. H. Beck, 2014. – 128 S. (C. H. Beck Wissen ; 2223)
ISBN 978-3-406-66171-6 : € 8,95 (kt.; auch als e-book)
Ob Mozart sich jemals davon erholen wird, auf den Sockel eines Vertreters einer so genannten „Wiener Klassik“ gehoben worden zu sein? Wie Peter von Matt solches bezüglich Goethen und einer so genannten „Weimarer Klassik“ bedauernd verneinen musste (übrigens anlässlich der Verleihung des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt/Main an ihn im letzten Jahr), so scheint auch Mozart keine Chance zu haben, diesem klassifizierenden Unsinn jemals zu entrinnen. Eine weitere Chance, Mozart stattdessen in einer eher gegenklassischen Produktivität zu verorten, hat Siegfried Mauser mit seinem ansonsten sehr klugen Büchlein über Mozarts Klaviersonaten vertan. Denn durch dieses Buch geht ein tiefer Riss zwischen unkonventionellen Einzelanalysen im Detail, aus denen man völlig entgegengesetzte Schlussfolgerungen erwarten würde, als dann tatsächlich gezogen werden, und den wie aufgesetzt wirkenden Einordnungen in ein nicht hinterfragtes klassizistisches Konzept.
Schon der Klappentext deutet eine ziemlich weitgehende Konsequenz an, indem er ventiliert, es werde deutlich, „dass die faszinierenden Sonaten Mozarts unter vielen Aspekten über den Horizont der Wiener Klassik hinaus visionär in die Zukunft weisen“. Aber das könnte auch nur so eine Redensart sein derart, dass Mozart auch schon Elemente kommender Epochen wie der Romantik und Moderne vorwegnähme. In Wirklichkeit macht Mauser, ohne es auszusprechen, deutlich und könnte es ‑ gestützt auf seine Befunde ‑ aussprechen, dass es so etwas wie eine Wiener Klassik wahrscheinlich überhaupt nicht gegeben hat und Mozart in diese nachträglich erfundene, alles simplifizierende Fiktion oder alles komplizierende Konstruktion nicht hineinpasst. Schon der selbst wieder klassisch gewordene Versuch von Charles Rosen, den sogenannten “Klassischen Stil“ dahingehend zu erläutern, als wäre er mehr Abweichung von einer Norm als die Norm selbst gewesen, erschien einigermaßen paradox. Wenn, wie Mauser erklärt, von Beethoven nur die frühen Sonaten noch im klassischen Stil gehalten seien, Mozarts Sonatenstil aber ‑ wie von ihm am Detail nachgewiesen ‑ von Elementen der Improvisation, der Spontaneität, des Spieltriebs, der Dramatik, der Theatralität bestimmt sei, fragt man sich, was von einer Klassik in Wien zwischen 1780 und 1820 noch übrig bleibt. Wo bleibt das eine Klassik prägende gültige Muster, worin bestünde es dann?
Wenn schon Haydn, dem man am ehesten zutrauen könnte, angestiftet von idealistischen Propagandisten wie dem Baron van Swieten, klassische, mustergültige, formvollendete Werke komponieren zu wollen, ein Korpus von Sonaten hinterlassen hat, das eher als Kaleidoskop möglicher Sonatenformen fungieren könnte denn als Sammlung vorbildlicher Modelle, so hat erst recht Mozart sicher nicht in einem klassizistischen Bewusstsein komponiert. Welchen Erkenntniswert könnte es dann haben, ihm das nachträglich anzuheften?
Die Sonatenhauptsatzform, dieses singularische Ungeheuer, könnte ja, verglichen mit den vorliegenden Kompositionen des angeblichen Wiener Dreimännerkollegiums, nur besagen, dass eine grobe Gliederung eines Tonstücks innerhalb einer zyklisch angelegten mehrsätzigen Sonate darauf basieren könnte, dass in einem Mittelteil die am Anfang exponierten Themen „durchgeführt“, d.h. verwandelt werden, um zum Schluss noch einmal wiedergegeben zu werden. Aber so eine formale Schablone macht noch keine Klassik, und die Art und Weise wie Haydn, Mozart und Beethoven mit diesem Füllhorn umgehen, ist überwiegend unklassisch. Im Briefwechsel Schillers mit Goethe kann man die antiklassische Haltung (oder Wende) dieser beiden wenigstens konkret nachweisen, bei Mozart müsste man es aus seinen Sonaten herausdestillieren. Der Witz ist, dass Mauser genau dies im Grunde tut und trotzdem an der Fiktion einer Wiener Klassik festhält.
Die terminologischen Unschärfen durch den haltlosen Klassik-Begriff beginnen schon bei der Herleitung dessen, was Mauser die Prinzipien des Mozartschen Sonatenkonzepts nennt. Das „barocke“ (warum nicht ebenso gut als „klassisch“ zu bezeichnende?) Gebot einer „Einheit des Affekts“ während eines Tonstücks wurde aufgegeben zugunsten einer melodischen, harmonischen und rhythmischen Differenzierung der Stimmen jenseits der Generalbasspraxis. Dieser von Mauser konkret verfolgte Prozess führte über die Stationen der Bach-Söhne, Johann Schoberts in Paris sowie Georg Christoph Wagenseils und Matthias Georg Monns in Wien zwar zu neuen Ordnungsvorstellungen, die man aber auch weniger streng, weniger bürokratisch erfüllen konnte. Das von allen drei Vertretern des Phantoms einer Wiener Klassik ständig unterwanderte, ausgehebelte, ironisierte Schema eines normativen Sonatensatzes ist ein ephemerer Rahmen für ganz andere Gestaltungsformen, von denen Mauser beredt erzählt, weil sie im Falle Mozarts rhetorische und dramatische Beweggründe haben, die seiner Musik innewohnen. Seltsam auch, dass Mauser zwar auf einige Kompositionslehren des 19. Jahrhunderts verweist, aber die von Friedrich August Kanne sich direkt auf Mozarts Klaviersonaten beziehende Abhandlung von 1821 nicht erwähnt, in der das rhetorische Element bereits hervorgehoben ist, ohne etwas von Exposition, Durchführung und Reprise einer späteren Sonatentheorie zu wissen.
Sympathisch und verdienstvoll ist Mausers Buch trotz alledem, besonders auch in seiner Intention, Mozarts Klaviersonaten aus dem Schatten Beethovens herauszuholen, um sie als Werke eigener Herkunft und eigenen Rechts von der Verniedlichung zu befreien, sie seien ja nur Vorläufer dessen, der dann mit seinen Sonaten ein „Neues Testament aller Klavierspieler“ geschaffen habe, wie solch pseudoreligiöse Verherrlichungen weltlicher Tonwerke im 19. Jahrhundert dann hießen. Weit von Heroisierung entfernt, schildert Mauser Mozarts Klaviersonaten in einer klaren, profanen und doch die aufsteigende geistige Linie nicht versäumenden Weise. Auch nicht übersehen wird von ihm, welch anmutig-würdig grundierende Bedeutung den sechs frühen Salzburger Sonaten (KV 279-84) zukommt, die Mozart für (und in) München 1774/75 schrieb, als er ganz in der Stimmung seines Dramma giocoso La finta giardiniera lebte und arbeitete. Ein weiterer Vorteil von Mausers Darstellung ist die bis heute selten bleibende Rücksicht auf instrumentengeschichtliche Umstände, die direkt in die Faktur der Sonaten hineinwirkten und auch heute noch den Übergang vom Cembalo zum Pianoforte und Hammerklavier klanglich und aufführungspraktisch sinnfällig machen können. Mit seinem Anhang (Hinweise auf Einspielungen, Verzeichnisse der Literatur, der Werke und Personen) ein zudem nützlich aufbereitetes Buch, an dem man sich gerne reibt und das hoffentlich viele Leser erreicht und zum Nachdenken und Nachhören anregt.
Peter Sühring
Berlin, 21.02.2015