Newman, Richard (mit Karen Kirtley): Alma Rosé. Wien 1906 – Auschwitz 1944. Eine Biographie / Aus dem Engl. übersetzt von Wolfgang Schlüter. Mit einem Vorwort von Anita Lasker-Wallfisch. – Bonn: Weidle, 2003. – 473 S., zahlr.Abb.
ISBN 3-931135-66-7 : € 34,00 (geb.)
Es ist eine lange Spurensuche, auf die sich Richard Newman Ende der 70er Jahre begibt. Sie dauert 22 Jahre, in denen der kanadische Musikkritiker den Spuren der jüdischen Geigerin Alma Rosé folgt und ihr kurzes, ebenso glamouröses wie tragisches Leben nachzeichnet. Die langwierige und mühevolle Suche hat sich gelohnt: Mit seiner Biographie von Alma Rosé – der ersten überhaupt! – hat Newman ein ebenso bemerkens- wie empfehlenswertes Buch vorgelegt.
Alma entstammt dem musikalischen Adel Wiens zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ihr Vater ist Arnold Rosé, hochgeschätzter Konzertmeister der Wiener Philharmoniker und Gründer des renommierten Rosé-Quartetts, ihre Mutter Justine ist die Schwester Gustav Mahlers. Das am 3. November 1906 geborene Mädchen wird nach seiner Patentante Alma Mahler benannt. Das Leben des musikalisch hochbegabten Kindes scheint unter einem günstigen Stern zu stehen und endet doch tragisch. 1942 kann Alma nicht mehr aus dem besetzten Holland fliehen. Am 18. Juli 1943 wird sie nach Auschwitz deportiert, wo sie bis zu ihrem Tod am 5. April 1944 die als “Mädchenorchester“ bekannt gewordene Lagerkapelle leitet.
Almas Bruder Alfred, der mit seiner Frau Maria in die USA emigriert war, überlebt. 1946 übernimmt Alfred Rosé eine Musikprofessur an der University of Western Ontario im kanadischen London an, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1975 lebt. Zum Nachlaßverwalter seines großen Schatzes an Memorabilia der Familie, die heute als Mahler-Rosé-Collection in der University of Western Ontario aufbewahrt werden, hat Alfred seinen Freund Richard Newman bestimmt.
Wenig später beginnt Newman, in den Dokumenten nach Spuren Almas zu suchen. Anlaß dafür ist ein Buch, das in Deutschland unter dem Titel Das Mädchenorchester von Auschwitz bekannt und in den USA verfilmt wird. Die Autorin, Fania Fénélon, eine französisch-jüdische Widerstandskämpferin, die als Sängerin zur Lagerkapelle gehörte, zeichnet darin vor allem von Alma ein so harsches, tyrannisches Bild, dass andere Überlebende wie die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch mit Nachdruck dagegen protestieren. „Das Entsetzen über die groben Verleumdungen fast aller Mitglieder, aber besonders von Alma, war maßlos“, schreibt Lasker-Wallfisch im Vorwort zur deutschen Ausgabe der Biographie Richard Newmans. „Alma Rosé war im wahrsten Sinne die Leiterin unseres Orchesters. Sie zog uns alle in den Bann des Wahns, aus dem Repertoire, das wir spielten, etwas Perfektes zu machen. Wer von uns überlebte, verdankt es ihr. Sie war eine stolze Frau – würdevoll und unnahbar.“
Richard Newman recherchiert akribisch und stößt bei seinen Nachforschungen auf mehr als sechzig Briefe Almas. Die Persönlichkeit, die ihm daraus entgegentritt, fasziniert ihn. Sie ist „emanzipiert und willensstark, empfindsam, stolz, schlagfertig, stimmungslabil, kultiviert, Familie und Freunden leidenschaftlich zugetan und kompromißlos im Verfolgen musikalischer Ideale“, schreibt er in seiner Biographie. Im Laufe der Jahre sammelt er ungeheure Materialmengen, führt Dutzende von Briefwechseln und Telefoninterviews und unternimmt mehrere Reisen nach Europa, um Freunde und Bekannte Almas aufzuspüren und mit Zeitzeuginnen zu sprechen. Aus unzähligen Mosaikstücken setzt Newman dann ein eindrückliches Bild zusammen, das der Persönlichkeit der ehrgeizigen und begabten Geigerin Konturen verleiht und ihrer Geschichte so weit wie möglich auf den Grund geht. Wo Fragezeichen bleiben und Stationen ihres Lebensweges nicht gänzlich geklärt werden können, wie z.B. ihre Flucht aus Holland, wägt der Autor verschiedene Hypothesen sorgfältig ab und diskutiert ihre Wahrscheinlichkeit.
Ein besonderer Vorzug des Buches ist es, dass Newman bei aller Einfühlsamkeit nie die Distanz verliert. Auch verliert er sich trotz der Materialfülle nicht in Details, sondern faßt an den geeigneten Stellen z.B. geschichtliche Hintergründe zusammen und behält sein Thema immer fest im Blick. Geschickt vermeidet er Deutungen, die ins Fiktive abgleiten könnten und läßt die Beteiligten möglichst oft selbst sprechen. Ausführlich zitiert er etwa aus dem Briefwechsel Almas mit ihrem Vater, den sie abgöttisch liebt und um den sie sich nach der Flucht aus Wien zunehmend sorgt. Aber auch andere Familienangehörige, Freunde, Bekannte und Kollegen kommen immer wieder zu Wort, und gerade diese authentischen Zeugnisse machen das Buch zu einer ebenso fesselnden wie bewegenden Lektüre. Ein umfangreicher Anhang mit einer Fülle von Quellenmaterial, viele Abbildungen und eine ansprechende Aufmachung runden den sehr empfehlenswerten Band ab.
Mehr als die Hälfte seiner Biographie widmet Richard Newman der Zeit vor der Verhaftung Alma Rosés Ende 1942. Dass sie einmal in die Fußstapfen ihres Vaters treten will, steht für Alma schon als Sechsjährige fest. Ihr Vater unterrichtet sie, so oft es seine Zeit erlaubt, manchmal schon vor dem Frühstück. Fotos aus der Kindheit zeigen ein bildhübsches Mädchen mit großen, ernsten Augen und einer Violine am Kinn. Entschlossen und mit schier grenzenloser Energie verfolgt Alma ihren Weg, vermeidet alles, was die Hände verletzen könnte und übt, damit der Vater sich ihrer nicht schämen muß. Wie schwierig es jedoch ist, sich in einer so berühmten Familie als eigenständige Künstlerin zu behaupten, ahnt ein verständnisvoller Rezensent bereits bei ihrem Wiener Debut am 16. Dezember 1926. „Man liebt sie in Wien ihres Vaters wegen und weil sie Gustav Mahlers Nichte ist. Eine solche Herkunft genügt, um ein volles Haus zu garantieren – aber sie ist ein zweischneidiges Schwert, denn in solchen Fällen sind die Erwartungen weit höher als gewöhnlich. Fräulein Rosé war sich der schwierigen Situation sichtlich bewußt und zu einem gewissen Grad von ihr gehemmt.“
Als Alma 1930 den tschechischen „Teufelsgeiger“ Vása Príhoda heiratet und ein dritter Geigenvirtuose in die Familie kommt, verbessert sich ihre musikalische Situation nicht. Erst nach der Trennung von Príhoda 1932 feiert Alma sensationelle Erfolge – als Gründerin und Leiterin eines reinen Damenorchesters, den „Wiener Walzermädeln“. Mit einem Programm aus Walzern, Polkas und Operettenmelodien touren die „Walzermädel“ durch ganz Europa. Strahlender Mittelpunkt dieser Konzerte auf hohem künstlerischem Niveau ist Alma, die bei jedem Auftritt mit einem Solostück brilliert.
Doch der Himmel über Europa hat sich längst verdüstert. Nachdem Konzerte für jüdische Musiker unmöglich geworden sind und Almas Mutter gestorben ist, flieht sie mit ihrem Vater nach London. Bald jedoch verläßt sie das sichere London wieder, um in Holland mit Konzerten Geld zu verdienen. Obwohl ihre Rückkehrgenehmigung abläuft, kehrt sie nicht nach England zurück. 1942 ist es zu spät. Ein Fluchtversuch, über Frankreich in die Schweiz zu gelangen, scheitert. Vom französischen Internierungslager Drancy wird Alma am 18. Juli 1943 nach Auschwitz deportiert.
Von erschütternder Authentizität ist die Schilderung der letzten Lebensmonate Alma Rosés in Auschwitz, die mehr als ein Drittel der Biographie einnimmt.
Dass Alma eine berühmte Geigerin ist, spricht sich im Lager schnell herum. Um ihre eigene Reputation zu steigern, überträgt die ehrgeizige SS-Kommandantin Maria Mandel Alma die Leitung eines Frauenorchesters. Im Musikblock von Auschwitz-Birkenau stürzt sich Alma „mit einer an Verzweiflung grenzenden Entschlossenheit“ – so beschreibt es Hélène Scheps, die Konzertmeisterin der Lagerkapelle – auf die Aufgabe, aus einem zusammengewürfelten Haufen junger Musikerinnen, von denen manche nur spärliche Vorkenntnisse mitbringen, ein echtes Ensemble zu formen. Almas Haltung, so kommentiert die Überlebende Hilde Grünbaum Zimche 35 Jahre nach der Befreiung, sei „in dieser Atmosphäre von Tod und Vernichtung schier unglaublich gewesen. Wem außer Alma wäre es in den Sinn gekommen, in Auschwitz-Birkenau etwas aufzubauen, das die Erinnerung an Schönheit wachhielt?“ Bald drängen Tausende von Häftlingen in die Sonntagskonzerte der Kapelle, und selbst das SS-Personal sucht zwischen seinen perversen Grausamkeiten Zuflucht im Musikblock. Doch immer wieder macht die Dirigentin ihren Musikerinnen klar: „Wenn wir nicht gut spielen, gehen wir ins Gas.“ Unerbittlich und mit eisernem Willen probt sie mindestens zehn Stunden pro Tag und bestraft unzureichende musikalische Leistungen hart. So kompromißlos sie in künstlerischen Belangen ist, so mutig und erstaunlich erfolgreich setzt sie sich für ihre Orchesterfrauen ein. Es gelingt ihr z.B., einen Eisenofen für den Musikblock zu bekommen oder eine Mittagspause durchzusetzen.
“Sie verlangte von uns absoluten und totalen Respekt, und allem Anschein nach bei allen Auftritten ebenso von der SS. Ich bin mir sicher, daß ich recht habe, wenn ich sage, daß sie eine einzigartige Stellung einnahm“, erklärt Anita Lasker-Wallfisch.
Nach einem Essen bei der Aufseherin der Bekleidungskammer stirbt Alma Rosé am 5. April 1944 unerwartet. Über ihren Tod kursieren im Lager zahlreiche Gerüchte. Erst vierzig Jahre später steht fest, dass Alma wahrscheinlich an Botulismus gestorben ist, einer Lebensmittelvergiftung, die sie sich durch den Verzehr einer verdorbenen Konserve zugezogen hat. Inmitten der perfiden Tötungsmaschinerie des Lagers wird um Alma getrauert.
Im November 1945 erklärt Ima van Esso Spanjaard rückblickend: „Nach ihrem Tod ist sie aufgebahrt gewesen mit Kränzen und Kerzen. Ich kann sagen, dass diese merkwürdige Ehre nie vorher oder seitdem einem anderen im Lager zuteil geworden ist.“
Friedegard Hürter
zuerst veröffentlicht in FM 24 (2003)