Zelger-Vogt, Marianne und Heinz Kern: Strauss. Der Rosenkavalier. – Kassel / Leipzig: Bärenreiter / Henschel, 2014. – 136 S.: s/w-Abb., Ill., Notenbsp., Tab. (Opernführer kompakt)
ISBN 978-3-7618-2248-7 (Bärenreiter) u. 978-3-89487-919-8 (Henschel) : € 14,95 (kart.)
Kann der altgediente „Opernführer“ heutzutage noch den kritischen Leser überzeugen, selbst wenn er sich nicht wie bei Ulrich Schreiber exklusiv den „Fortgeschrittenen“ zuwendet? Zweifellos firmiert unter dieser Rubrik etliche Pseudowissenschaft und Hausbackenes mit zentimeterhoher Staubschicht. Einen Glücksfall fundierter Werkbetrachtung, die dem vorgebildeten Kenner und interessierten Liebhaber prägnante Information und ein facettenreiches Spektrum überraschender Aspekte bietet, initiierten dagegen Bärenreiter und Henschel mit der Paperbackreihe Opernführer kompakt.
Nun ist, so scheint’s, über die Spitzen des Repertoires von Don Giovanni bis Tosca längst alles oder das meiste gesagt und spekuliert. Doch ist es gerade jenes Phänomen ihrer Langlebigkeit, verbunden mit den Wechselfällen ständiger Neu- und Uminterpretation, aus der die attraktive Pocketserie Kapital schlägt. Nicht umsonst widmet sie allein ein gefühltes Drittel der auch großzügig bebilderten Opernporträts den Aspekten der produktiven Rezeptions- und Aufführungsgeschichte von der Weltpremiere bis ans Limit.
Alle Ehre macht dem „Kompakt“-Attribut auch die Folge zur wohl jüngsten veritablen Repertoireoper überhaupt: Richard Strauss‘ Der Rosenkavalier. Autoren sind die langjährige Zürcher Feuilletonredakteurin Marianne Zelger-Vogt und der in leitendem Kulturmanagement und Musikvermittlung erfahrene Heinz Kern. Trotz des hergebrachten Grundgerüsts aus kurzer Einführung, Komponistenvita, Werkdaten, Handlung und Interpretation der musikalisch-dramaturgischen Gestaltung hält eine erfrischend informative Präsentation von Fakten und Hintergründen das Leserinteresse wach.
Fasst man dabei Populärwissenschaft als Balanceakt zwischen Breitentauglichkeit und Fachspezifik auf, schlägt das Pendel eine Nuance stärker in letztere Richtung. Doch wird hier auch derjenige, der nicht mit jeder der durchaus ungeniert angewandten Tonart-, Tempo-, Intervall- und harmonischen Termini (Beigabe: Glossar) auf vertrautem Fuß steht, Strauss‘ „wienerische Maskerad‘“ um Liebesrausch, -verzicht und -intrige innerlich hörend und sehend nachvollziehen, dank klarer Formulierungskunst zugleich die immanente Reflexion von Zeit und Vergänglichkeit mitdenkend.
Es erstaunt, mit welchem Spürsinn für Essenz und Kernsubstanz die Autoren den äußeren und psychologischen Handlungsablauf mit den kompositorischen Mitteln zusammendenken und exegetisch erhellen – seien es das werktypische Parlando, die Weiterentwicklung der Leitmotivik im sinfonischen Kontinuum oder ironische Brechungen anhand anachronistischer Verpflanzung des Walzeridioms ins Wien Maria Theresias. Und nicht nur zwischen den Zeilen lugt – zur Begeisterung infizierend – die am traditionellen Opernführer beargwöhnte Schwärmerei hindurch. Wer aber leugnet ernsthaft, dass Marschallin, Octavian und Sophie nach Überlistung des grobschlächtigen Brautwerbers Ochs das „zweifellos ergreifendste Terzett für Frauenstimmen, das je geschrieben wurde“ (S. 84), zu zelebrieren haben?
Der Überblick über Leben und Schaffen des Komponisten und die Entstehungsgeschichte (Akzent: die operngeschichtlich epochale Zusammenarbeit zwischen Strauss und Textdichter Hugo von Hofmannsthal) fassen pointiert die Erkenntnisse der neueren Strauss-Forschung zusammen, die gerade zum Jubiläumsjahr forcierten Aufwind erfuhr.
Ein anderes, unkonventionelles Plus: Von hier bis ins sinnreich und praxisnah kommentierte Kapitel zur Aufführungsgeschichte (einschließlich Verfilmungs-problematiken, Regietheaterkonzepten und diskographischen Personalien) mischen sich gut 30 umrandete Einschübe in den laufenden Text und evozieren Vorfreuden auf weitere Überraschungen und ungeahnte Fußnoten: hintergründige Steckbriefe der Protagonisten oder – kaum gedacht – des kleinen Negers, Schlaglichter z.B. zu philosophischen Denkfiguren Hofmannsthals in unscheinbaren Textfloskeln (Präexistenz: „Wo war ich schon einmal und war so selig?“), zu den 13 (!) Uhrschlägen im Zeit-Monolog der Marschallin, zur italienischen Arie und diversem mehr. Das letzte Wort aber obliegt als stilkundigem Doyen der zeitgenössischen Rosenkavalier-Interpreten dem Dirigenten Franz Welser-Möst, der, interviewt unter dem Motto „Eine Liebesbeziehung“, aus dem letzten Finale die Quintessenz zieht: Es „rührt an die Größe und Erhabenheit des zutiefst Menschlichen, (…) es handelt letztlich von der Vergänglichkeit.“ (S. 132).
Andreas Vollberg
Köln, 15.11.2014