Gottfried von Einem: „Du und ich sind ein Einfall“: Briefe an Andrea / Hrsg. von Andrea von Wiedebach. Mit einem Dialog zwischen Andrea von Wiedebach und Caspar Einem. – Wien: Zsolnay, 2013. – 397 S.: s/w Abb.
ISBN 978-3-552-05650-3 : € 24,90 (geb.; auch als e-Book)
Das Cover zeigt den über 40-jährigen Komponisten und die sehr junge, hübsche Andrea Liebrecht, Nichte (Schwestertochter) seiner 1962 plötzlich verstorbenen Frau Lianne von Bismarck. Es war eine rätselhafte Liebesbeziehung, die die beiden verband und die Rückschlüsse sind nicht so einfach, wie sie zunächst scheinen. Ein inzestuöses Verhältnis war es also nicht, nichtsdestotrotz sind es gleich mehrere Inkongruenzen, die bei dieser „amour fou“ gerade nach der Lektüre des Briefwechsels auffallen. Es sind zunächst der große Altersunterschied beider Protagonisten, deren unterschiedliche gesellschaftliche Verortung und die Abhängigkeiten, die sich aus dieser innerfamiliären Beziehung ergeben. Alarmierte Eltern, eine besorgte Großmutter und ein – weitgehend moralisch – entrüstetes Umfeld auf der einen, das Gefühlschaos der beiden Liebenden auf der anderen Seite liefern jedenfalls alle Ingredienzien zu einer love story, wie sie zu Beginn der 1960er Jahre in Deutschland und Österreich noch äußerst anrüchig war. Ein freundliches Verwandtschaftsverhältnis zur Familie Liebrecht bestand naturgemäß trotz der räumlichen Distanz – von Einem lebte überwiegend in Wien, die Liebrechts im Westerwald – schon länger, die erotische Komponente kam wohl erst hinzu, als von Einem unerwartet verwitwete und sich 44jährig mit seinem Sohn Caspar (damals 14) in einer emotionalen Ausnahmesituation wiederfand. Die Westerwälder Großmutter übersiedelte nach Wien, um dem Schwiegersohn beizustehen und den Haushalt zu führen und so festigten sich die familiären Bande. Vielleicht ist es (m)eine weibliche Lesart, vielleicht ist es auch einfach in diesem speziellen Kontext unausweichlich: die Gymnasiastin Andrea, ein hübscher Teenager auf dem Weg zur erwachsenen Frau, ehrgeizig, mit wachem Intellekt und beiden Beinen auf dem Boden stehend, geriet ins Blickfeld des trauernden Komponisten. Sie schien eine emotionale Leerstelle zu füllen und ließ sich zunächst überwältigen von dessen Esprit, umfassender Bildung und Lebenserfahrung. Hier erscheinen einige Anmerkungen zur Edition angebracht. Von Einem hat in seiner Autobiographie diese Liebesbeziehung elegant verschwiegen, seiner Nichte aber immerhin die Veröffentlichung der Briefe nach seinem Tod freigestellt. Die Briefe von Einems stammen aus dem Besitz der Adressatin, deren Antwortschreiben aus dem Einem-Nachlass der Gesellschaft der Musikfreunde Wien. Andrea von Wiedebach hat diese Briefe chronologisch geordnet, mit Anmerkungen versehen und somit auch in den kulturgeschichtlich richtigen Kontext gestellt. Von Einem – die Wiener nannten ihn spöttisch „der Eine“ – war ein geradezu obsessiver Briefschreiber, der oft mehrmals am Tag zur Feder griff und „sein geliebtes, warmherzig-überlegendes Mädchen“ mit Bekenntnissen, Sehnsüchten und Ansprüchen geradezu bedrängte. Die Briefe, Karten und Billette des Komponisten sind dabei vollständig im Original abgedruckt, Andreas Antworten darauf (leider, wie ich finde) oft gekürzt oder leicht korrigiert. Den Grund dafür kann man nur vermuten, vielleicht wollte die Adressatin ihre eigene Rolle bewusst kleinhalten, den Fokus auf von Einem legen, Redundanzen begradigen oder einfach alles zusammen. Jedenfalls berührt die Lektüre sehr. Oft fühlt man sich in die Rolle des Voyeurs gedrängt, der zwei Menschen bei ihrem Ringen um eine gemeinsame Zukunft beobachtet und dabei an deren tiefsten Regungen teilhat. Es sind hunderte von Briefen, die zwischen 1962 und 1965 den Adressaten wechseln und die in ihrem schwankenden Ton deutlich das Auf und Ab dieser Beziehung abbilden. Von Einem schreibt bisweilen sehr poetisch und feinsinnig, bedient sich, ganz Künstler, einer bilderreichen Sprache, beeindruckt durch Eleganz und Formulierungskunst. Oft sind die Briefe aber auch hart und bedingungslos in Diktion und Anspruch. Im Bewusstsein seiner musikhistorischen Bedeutung – er zählte nach 1945 zu den großen Hoffnungsträgern der jüngeren Musikelite – lässt er sie an seinem ausgefüllten Leben teilhaben und beeindruckt so ganz nebenbei durch internationale Vernetzung im Kulturbetrieb, als Festspielfunktionär, akademischer Lehrer oder Gerechter unter den Völkern (Yad Vashem). Er erteilt Lektüre- oder Hörratschläge und Verhaltensregeln, die pädagogischen Absichten vor dem Hintergrund der Jugend der Adresssatin sind leicht durchschaubar. Seine emotionalen Nöte, befördert durch Depressionen, Schaffenskrisen, innere Zerrissenheit und die Sehnsucht nach der räumlich entzogenen „Kindfrau“ ziehen sich wie ein roter Faden durch seine Texte. Briefliche und reale Zerwürfnisse, die schriftlich aufgearbeitet werden und Missverständnisse bestimmen diese über fast 4 Jahre währende Beziehung. Entlang der Chronologie der Texte verfolgt man anerkennend die wachsende Reife der jungen Frau, die diese zuweilen bewusst manipulative Taktik durchschaut und der es bei aller Aufrichtigkeit ihrer Liebe gelingt, diesem Sog zu entkommen und ihren eigenen Weg zu gehen. Die „Doppelgesichtigkeit“ von Einems, die sie in seiner Trunksucht, seinem Zynismus und manchmal aufscheinenden Sadismus zu identifizieren glaubt, befördern letztlich ihre Entscheidung für eine Trennung. Von Einem heiratete 1966 die Schriftstellerin Lotte Ingrisch, die für ihn schon in der Vergangenheit Libretti geschrieben hatte. Andrea von Wiedebach erlernt ihren Wunschberuf einer „Orthoptistin“ (Fachkraft für Augenheilkunde), wird später Sonderschullehrerin für Sehbehinderte, heiratet und gründet eine eigene Familie. Der Kontakt zu den von Einems bleibt erhalten, verliert aber naturgemäß an Bedeutung.
Claudia Niebel
Stuttgart, 21.11.2014