Esch, Rüdiger: Electri_City. Elektronische Musik aus Düsseldorf – Berlin: Suhrkamp, 2014. – 459 S.: 27 s/w-Abb.
ISBN 978-3-518-46464-9 : € 14,99 (Pb)
Die Düsseldorfer Band Fehlfarben präsentierte 1980 ihre Schallplatte Monarchie und Alltag, die als zeitloser Klassiker von ihrer Bedeutung her vielleicht so etwas ist, wie die deutsche Variante von Forever Changes der amerikanischen Band Love. Auf Monarchie und Alltag heißt es in einem Text des großartigen Peter Hein „Wir tanzten bis zum Ende
zum Herzschlag der besten Musik
/ Jeden Abend, jeden Tag,
wir dachten schon, das wär der Sieg / Das war vor Jahren“. Das was sich damals abspielte, umfasst in Rüdiger Eschs Buch den Zeitraum von 16 Jahren. „Er dokumentiert die Geschichte der elektronischen Musik von ihren Anfängen um 1970 bis zum Ende der analogen Phase gegen Ende 86.“ schreibt der sympathische Kraftwerk-Dissident Wolfgang Flür im musikalisch „Intro“ genannten Vorwort (S. 12).
In der Geschichtsschreibung gibt es Epochen, in denen bedeutende neue Entwicklungen stattfinden, die sich oft erst später als äußerst prägend und inspirierend darstellen. Im kulturellen Entwicklungsprozeß sind diese goldenen fruchtbaren Jahre, denen in der Regel eine Zeit der Stagnation und des gesellschaftlichen Rückschritts folgt, meist mit bestimmten Orten verknüpft.
In den oben erwähnten 16 Jahren ab 1970 waren Düsseldorf, Berlin, Hamburg und München die magischen Orte, an denen Musikgeschichte geschrieben wurde. Ohne die Düsseldorfer Kraftwerk und ohne den Sequenzer-Programmierer Christoph Franke von Tangerine Dream aus Berlin gäbe es kein Techno. Ohne die Münchner Band Embryo gäbe es keine „Weltmusik“. In Hamburg war in den späten Siebzigern die Punkband Abwärts wichtig und um 1980 erfanden die Einstürzenden Neubauten in Westberlin ihren legendären großstädtisch brachialen „Industrial“-Sound.
Mit spezieller Fokussierung auf eine Musik, die zwar nicht immer rein elektronisch erzeugt wurde, aber zumindest durch die Verwendung elektronischer Instrumente dominiert ist, und mit besonderem Blick auf seine Geburtsstadt Düsseldorf lässt Rüdiger Esch die damals Beteiligten zu Wort kommen, indem sie aus ihren Erinnerungen berichten. Insofern wirbt der Verlag berechtigterweise mit dem Stichwort „Oral History“ und erhofft sich vermutlich mit Eschs Publikation einen vergleichbaren Erfolg, wie ihn der dem gleichen Muster entsprechende Doku-Roman von Jürgen Teipel mit dem Titel Verschwende deine Jugend von 2001 erzielte und das ketzerische in erster Auflage schnell verbotene autobiografische Buch Ich war ein Roboter von Wolfgang Flür von 1999. Aus beiden Büchern zitiert Esch, wie er in der editorischen Notiz (S. 457) bekennt. Kein Problem, interessante Dinge liest man gern mehrfach und abgesehen davon sind dies Ausnahmen. In Electri_City wird noch mehr geboten, z.B. das Kapitel „Die Maschinen“ (S. 444) mit einer Auflistung und Kurzbeschreibung der zehn wichtigsten elektronischen Instrumente jener Zeit und die Seite 414. Dort sind jene Mitstreiter vermerkt, die (wie der geniale Toningenieur und Produzent Conny Plank) viel zu früh starben. Tragisch ist u.a. das Schicksal von Chrislo Haas, der den Sound von DAF mit seinen Synthesizern, denen er „komplett verfallen“ war (S. 234) maßgeblich prägte. Als DAF zum Duo geschrumpft und zu Großverdienern mutiert waren, war er auf der Strecke geblieben. Er starb, noch nicht mal 50jährig „an Alkoholismus“. Nicht nur in Bezug auf die Geschichte der Band DAF liest sich das Buch wie ein spannender Roman. Formal verwendet Esch die gleiche Methode wie Teipel (s.o.): die Interviews wurden in einzelne Parts zerlegt, welche thematisch/chronologisch sinnvoll zusammengestellt sind. Das funktioniert auch auf Grund der vielen Insiderinformationen, die preisgegeben werden, bestens.
Das Buch ist für Freunde elektronischer Musik im Kontext der genannten Genres unverzichtbar. Leute wie Rüdiger Esch leisten mit ihren Büchern wertvolle Arbeit indem sie klarstellen, dass Kultur und Kunst eine Geschichte haben, deren Manifestationen mit allem verknüpft sind, was in unserer Gegenwart entsteht, egal wie tagesaktuell und neuartig es daherkommen mag.
Zudem wird mit Electri_City eine Generation gewürdigt, die das genaue Gegenteil der heutigen unkritischen, unpolitischen „Generation Merkel“ darstellt (Titelstory Der Spiegel 46/2014): die im Buch zu Wort kommenden Musiker waren keine „Kinder der Stille“ (Spiegel) und überwiegend noch einer Gegenkultur entsprungen, die aus Gesellschaftskritik, Konsumkritik und politischem Bewusstsein erwuchs. Damals gehörte an den erwähnten Orten „Kunst hier zur Alltagsstimmung“ (Bernd Cailloux, S. 16), meist unter Ausschluss jeglicher kommerzieller Erwägungen. Diese Zeit ist längst vorbei. Gut, dass man sich mit Hilfe von Electri_City daran erinnern kann.
Auf dem Label Grönland sind gesondert eine begleitende CD und eine Vinylscheibe erschienen mit 13 Stücken von La Düsseldorf, Wolfgang Riechmann, Harmonia/Eno, Der Plan, DAF, Neu!, Teja, Makrosoft, Liaisons Dangereuses, Wolfgang Flür, Rheingold, Michael Rother und der Band Die Krupps, in der Rüdiger Esch den Bass spielte.
Manfred Miersch
Berlin, 15.11.2014